Versteckt auf den Dächern und hinter manchen Fenstern über der großen Fußgängerzone im Zentrum der Altstadt, dort, wo die Dichte an Luxusartikelgeschäften, Banken und Nobelrestaurants am höchsten ist, haben seit heute acht Uhr früh Scharfschützen begonnen, wahllos auf Passanten zu schießen. Zusätzlich haben Terroristen Geiseln genommen und sich mit diesen in anliegenden Geschäften, Lokalen und Hotels verschanzt. Vorsichtigen Schätzungen zufolge, wie es im Radio heißt, wurden bislang 34 Menschen getötet, eine Zahl, die vermutlich untertrieben ist, denn allein in dem Bereich, der vom Appartement von Mariannes Eltern aus, wo wir uns seit gestern Abend befinden, einsehbar ist, können wir über zwanzig Tote zählen, und die Fußgängerzone verläuft ja links und rechts viel weiter, als unser Blick reicht.

Eines der Häuser am Anfang des Einkaufsboulevards ist halb eingestürzt und steht in Flammen, weil sich ein Attentäter in die Luft gesprengt hat, als ein Sonderkommando der Polizei das Dach stürmen wollte. Niemand hat den Überblick, wo überall Sniper postiert und wie viele Terroristen insgesamt an der Aktion beteiligt sind. Die Innenstadt ist abgeriegelt, es herrscht Ausgangssperre. Von den Fenstern des Appartements aus sehen wir die Blutlachen, wo Fußgänger niedergestreckt worden sind, manche liegen noch da, andere hat man schon zu bergen versucht, aber nur anfangs, denn auch auf die Rettungskräfte wird gefeuert, davon zeugt unter anderem ein ausgebrannter Ambulanzwagen. Auch ein totes Kamerateam sehen wir. Hubschrauber kreisen seit Stunden über der Stadt. Angeblich wurde in der Zwischenzeit einer von den Terroristen abgeschossen, darüber herrscht jedoch noch Unklarheit in den Medien. Hundertschaften von Polizisten in kugelsicherer Montur und beigezogene Militäreinheiten haben sich in den anliegenden Gassen postiert. Mehrere kleine Panzer haben mittlerweile auf der Fußgängerzone Aufstellung genommen. Momentan verhalten sich die Attentäter still. Trotzdem ist die Luft von Rauch und Sirenengeheul erfüllt, und immer wieder hören wir die Schmerzensschreie jener Passanten, die nicht getötet, sondern nur verletzt worden sind.

Es soll heute der heißeste Tag des Jahres werden, wie der Wetterbericht schon seit Tagen prophezeit hat – das kommt noch dazu. Der erlösende Regen wird gegen Abend erwartet oder gar erst in der Nacht. Gegenwärtig sind noch keine Wolken am Himmel.

Marianne ist seit geraumer Zeit in der Küche, und ich habe es mir auf einem Sofa gemütlich gemacht, nur hin und wieder gehe ich an die Fenster und teile ihr mit, wie die Lage ist. Ich frage sie ab und zu, ob ich ihr denn nicht zur Hand gehen solle, aber sie antwortet jedes Mal, es gehe schon, sie habe alles im Griff. Ich bin gespannt, was sie vorhat.

Eine Weile schaue ich den Livestream eines Nachrichtensenders auf Mariannes Tablet an, erkenne einmal kurz sogar das Haus, in dem wir uns aufhalten, aber dann denke ich mir, dass so etwas ja absurd ist, dass ich das Ganze schließlich auch hautnah haben kann, und so wende ich mich vom Bildschirm ab und stelle mich wieder an die Fenster, äuge erst auf das Dach und die Fassade des Gebäudes vis-à-vis, und als ich keinen Sniper erblicke, strecke ich meinen Kopf hinaus. Genau in diesem Augenblick macht einer der Sicherheitsleute vom Juwelier gegenüber dasselbe, er hält seinen Kopf für einige Sekunden aus der Eingangstür, schon knallt es, er bricht zusammen, weitere Schüsse fallen, Rauchkartuschen werden von der Polizei in die Mitte der Fußgängerzone geworfen und vernebeln den Abschnitt, offensichtlich wollen sie den Mann bergen, ohne von den Scharfschützen gesehen zu werden, da bringt eine sehr laute Detonation ein paar von den Fenstern an der anderen Häuserfront zum Zerbersten, Schreie, weitere Salven, und dazu unausgesetzt die Alarmsirenen der Nobelgeschäfte, was mich letztlich dazu veranlasst, die Fenster zu schließen und auch die Vorhänge zuzuziehen. "Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst?", rufe ich in die Küche. "Ist bald fertig, danke!", kommt Mariannes Antwort.

Raffinierte Speisenfolge

Also gehe ich zu ihrem Tablet, schließe es an die Lautsprecher an, wähle eine ihrer Playlists aus, es ertönen die ersten Takte der Enigma-Variationen Opus 36 von Edward Elgar, ich schalte lauter, damit der Lärm von draußen zumindest teilweise überdeckt wird, dann schlendere ich ein bisschen durch die Räume dieser weitläufigen Wohnung, hohe Plafonds, alles großzügig eingerichtet, hauptsächlich mit alten chinesischen Möbeln, orientalischen Teppichen und indischen Stoffen, hölzernen und steinernen Skulpturen aus Südamerika, afrikanischer Stammeskunst, an den Wänden Bilder bekannter Maler der europäischen und amerikanischen Moderne und mindestens eine ganze Regalwand pro Zimmer mit Büchern, deren Wert man schon an ihren Rücken zu erkennen glaubt.

Marianne hat sich für diesen Tag sichtlich gut vorbereitet. "Voilà, hier ist das heutige Menü", höre ich ihre Stimme knapp neben meinem Ohr und erschrecke ein bisschen, weil ich sie wegen der lauten Musik gar nicht kommen gehört habe. Sie reicht mir ein gefaltetes Blatt Büttenpapier. Ich öffne es und lese den Menü- plan, der, in kalligrafischen Lettern geschrieben, eher an eine alte Staatsurkunde oder einen Kodex erinnert. Die Speisenfolge ist zweifellos raffiniert und außergewöhnlich:

Hühnerconsommé a l'impériale

Pastete à la Talleyrand

Omelette Tegetthoff

Filet Wellington

Bismarckhering

Kotelett à la Nelson

Filet à la Colbert

Radetzky-Kipfel

Metternich-Pudding

Esterházy-Torte

Dazu gibt es begleitend ausgewählte Weiß-, Rot- und Schaumweine, abschließend Likör und Kaffee, wie ich lesen kann. Zigarren werden gereicht.

"Nicht übel", sage ich und pfeife anerkennend durch die Zähne. "Du kannst schon Platz nehmen", meint Marianne und verschwindet wieder in der Küche, und ich begebe mich in den Salon, wo der Tisch bereits gedeckt ist. Auch hier werfe ich einen kurzen Blick durch die Fenster, doch nichts hat sich an der Situation geändert, außer dass zusätzlich jetzt noch Paramilitärs an dem ganzen Tumult beteiligt zu sein scheinen, denn man sieht einige vermummte Gestalten umherlaufen, die Fantasieuniformen tragen, Hooligans vielleicht, denke ich.

Und schon ist Marianne mit zwei Champagnerkelchen da, ich bedanke mich, wir lächeln und stoßen auf unser Wohl an. Die Marke und den Jahrgang flüstert mir Marianne ins Ohr. "Unvergleichlich", flüstere ich zurück, dann setzen wir uns an den Tisch und beginnen mit dem Mahl. Ich bin überwältigt. Jeder Gang von Mariannes Menü scheint den vorherigen zu übertrumpfen. Wie sie das gemacht hat, ist mir ein Rätsel, die Speisen sind ideal temperiert, und stets ist mein Glas voll, und von allem ist gerade so viel auf dem Teller, dass man nie Gefahr läuft, der Speise überdrüssig zu werden.

"Ich habe gar nicht gewusst, dass du so fantastisch kochen kannst", lobe ich Marianne. "Ich auch nicht", erwidert sie. Zwischen dem letzten Hauptgericht und der ersten Nachspeise frage ich dann Marianne, ob sie mir denn nicht einmal erzählt habe, dass ihr Vater ein paar Gewehre besitze. "Und ob", lacht sie und führt mich ins Schlafzimmer ihrer Eltern, zieht die Bettlade heraus, und ich erblicke ein halbes Dutzend Jagdgewehre, von denen ich zwei an mich nehme.

Eine immense Detonation

"Und die Munition?", frage ich. "Hier, bitte schön, alles voll", sagt Marianne, öffnet den begehbaren Kleiderschrank ihrer Mutter und drückt mir einen Louis-Vuitton-Koffer in die Hand. "Danke schön", erwidere ich und trage die Gewehre und den Koffer in den Salon.

Während Marianne die Radetzky-Kipfel aus der Küche holt, inspiziere ich die beiden Gewehre. Es handelt sich um zwei Mannlicher-Schönauer im Kaliber 6,5×54, österreichisches Qualitätsfabrikat, in tadellosem Zustand, und die Patronen in dem Koffer sind sogar Vollmantelgeschoße. Mittlerweile hat die Musik aus dem Nebenzimmer zum zweiten Lied der Chansons madécasses von Maurice Ravel gewechselt.

Als Marianne mit den nächsten zwei Tellern wiederkommt, lege ich die Waffen beiseite, und wir essen bedächtig und der Musik lauschend weiter. Als wir bei der letzten Nachspeise angelangt sind, durchschlägt eine verirrte Kugel eines der Fenster des Appartements und durchbohrt ein Bild von Franz Marc, das über dem Tisch, an dem wir sitzen, hängt. Lustigerweise ist das Projektil genau durch die Brust des darauf dargestellten Pferdes gegangen. Und eine Minute später klirrt wieder eine Scheibe, vermutlich erneut ein Querschläger, und diesmal durchbohrt das Projektil einen Andy Warhol weiter links an der Wand, einen aus der Serie Double Elvis. "Was für ein komischer Zufall", sage ich, und Marianne nickt.

Sie geht ein weiteres Mal in die Küche und kehrt mit einer kleinen Tasse Kaffee zurück, die sie vor mich auf den Tisch stellt. "Danke", sage ich und nippe daran. "Mit Kardamom", fügt Marianne hinzu. "Danach schaffe ich aber wirklich keinen Bissen mehr", stöhne ich und wische mir nach dem letzten Schluck Kaffee mit der Serviette über die Lippen.

"Musst du auch gar nicht", sagt Marianne, und im selben Moment gibt es draußen in der Fußgängerzone eine immense Detonation, es drückt klirrend die Scheiben der Fenster ins Innere des Appartements, man hört Maschinenpistolengeknatter, und grauschwarzer Rauch zieht in die Zimmer. "Soll ich dir abwaschen helfen?", frage ich Marianne. "Nein, danke dir, das kann ja morgen die Putzfrau machen", antwortet sie. "Wie du meinst", sage ich und wähle eine Zigarre aus der Schachtel, die sie mir anbietet, kappe sie und zünde sie an. Nach ein paar genießerischen Zügen stehe ich auf, nehme die Gewehre und schiebe jeweils fünf Patronen ins Trommelmagazin. Dann schaue ich mit einer der beiden Waffen in der Hand vorsichtig um die Ecke des Fensterrahmens. "Möchtest du auch?", frage ich und deute auf das zweite Gewehr. "Gleich", antwortet Marianne, "ich wasche mir nur noch schnell die Hände", und huscht in die Küche. "Da fällt mir ein", rufe ich ihr nach, "ich habe dich noch gar nicht gefragt, was ich für das wahrlich lukullische Mahl schuldig bin." "Lass mal gut sein", höre ich sie aus der Küche lachen, "abgerechnet wird später." "Wunderbar", sage ich und entsichere das Gewehr.

Am Ende steht Marianne auf der einen, ich auf der anderen Seite des Fensterrahmens, gemeinsam blicken wir auf die sich uns fast unterwürfig darbietende Schreckensszenerie, wir sehen die schwelenden Granatenkrater, die zersplitterten Auslagenscheiben, die Leichen, die in den Blutlachen wie in der dazupassenden Sauce liegen, die brennenden Panzer und die verzweifelten Polizisten, wir hören die Schüsse und Explosionen und die Schreie und die Megafonbefehle und die Sirenen und die Hubschrauber, und eine panische Taube fliegt dicht vor unserem Fenster vorbei.

"Wer zuerst?", frage ich Marianne. "Ich!", ruft sie, stellt sich an die Fensterbank und eröffnet das Feuer. Sie kann fünf Schüsse abgeben, bevor die Polizisten das Gegenfeuer eröffnen, und nach dem Nachladen drei weitere, bevor sie tot neben mir zusammenbricht. Ein Kopfschuss, wie ich angesichts der auf meinen Anzug gespritzten Hirnmasse feststellen kann. Was für schönes Haar sie gehabt hat, denke ich, dann hole ich tief Luft, trete an ihre Stelle in den Fensterrahmen, lege den Gewehrschaft an meine rechte Wange, ziele genau und atme kontrolliert langsam aus. (Xaver Bayer, Album, 17.11.2015)