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Der russische Präsident Wladimir Putin und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sprachen beim G20-Gipfel nahe Antalya noch miteinander. Ein Treffen beim Klimagipfel in Paris Anfang Dezember kam nicht zustande.

Foto: AP/Zemlianichenko

Die Nato will die Flugabwehr der Türkei angesichts der zunehmenden russischen Militärpräsenz in der Region stärken. Darüber beraten derzeit die Außenminister der Allianz in Brüssel. Nato-Experte Ulrich Kühn vom Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg sieht das als politisches Signal der Solidarität an die Türkei. Im Grunde stehe die Nato aber vor der Quadratur des Kreises. Denn eigentlich sollte sich das Bündnis im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS) mit Russland abstimmen, obwohl es da noch die Spannungen zwischen der Nato und Russland wegen der Ukraine gibt.

STANDARD: Wladimir Putin wirft der Türkei den Schutz von Ölgeschäften des IS vor und sieht darin die Ursache für den Abschuss des russischen Kampfjets. Eine weitere Eskalation?

Kühn: Die Türkei und Russland befinden sich letztlich in einer Eskalationsspirale. Keiner von beiden will nachgeben. Das hängt auch damit zusammen, dass sich Erdoğan und Putin in ihrem autokratischen Regierungsstil und ihrer Persönlichkeit sehr gleichen. Nach Einschätzung westlicher Analysten war das Vorgehen der Türkei beim Abschuss des russischen Jets politisch zwar zu verstehen, aber in der praktischen Durchführung übertrieben und rechtlich vor dem Hintergrund des internationalen Völkerrechts fragwürdig.

Russland versucht jetzt zu reagieren, indem es Sanktionen gegen türkische Produkte verhängt und Dinge offen anspricht, die auch von westlicher Seite immer wieder hinter vorgehaltener Hand vorgebracht wurden – nämlich dass die Türkei in der Region und gegenüber dem IS eine ambivalente Rolle spielt. Es ist bekannt, dass immer wieder Tanklaster die türkische Grenze überqueren, in denen mit hoher Wahrscheinlichkeit Öl aus den vom IS kontrollierten Ölquellen transportiert wird. Außerdem sollen IS-Kämpfer in türkischen Krankenhäusern behandelt worden sein. Das alles wirft natürlich ein fragwürdiges Licht auf die Politik der Türkei in der Region.

STANDARD: Die Türkei lehnt weiter jede Entschuldigung für den Jet-Abschuss ab. Wie ist die Nato nun gefordert, auch angesichts der Spannungen mit Russland wegen der Ukraine?

Kühn: Die Nato steht hier vor der Quadratur des Kreises. Es existieren die zwei großen Fronten: Einerseits will man die östlichen Bündnispartner in Europa wie Polen oder auch die baltischen Staaten rückversichern und sich in der Frage der Ukraine Russland gegenüber standfest verhalten. Andererseits muss man dringend mit Russland über militärische Transparenz und Vertrauensbildung in Europa reden, vor allem um gefährliche militärische Zwischenfälle zu vermeiden. In Syrien wiederum engagieren sich aktuell mit den USA, der Türkei und Frankreich drei Nato-Staaten, mit Großbritannien und Deutschland würden zwei weitere dazukommen. Diese Staaten wollen Solidarität mit dem Bündnispartner Türkei bekunden, sollten zugleich aber mit Russland zusammenarbeiten.

STANDARD: Die Situation wird nicht leichter dadurch, dass Russland nun das S-400-Luftabwehrsystem in Syrien stationieren will, um seine "Flüge zu schützen".

Kühn: Man sendet hier ein deutliches Signal: Wir sind hier, und ihr kommt an uns nicht mehr vorbei. Denn dieses System ist äußerst potent. Es deckt einen Radius von 400 Kilometern und eine Höhe von 27 Kilometern ab. Man kann es gegen Kampfjets, Tarnkappenbomber, unbemannte Flugkörper und sogar Cruise Missiles verwenden.

STANDARD: Als Reaktion will die Nato die Türkei stärker bei der Luftabwehr unterstützen. Geplant sein sollen Maßnahmen zur besseren Luftraumüberwachung und Luftverteidigung.

Kühn: Das ist ein typisches politisches Signal, das der Türkei zeigt: Wir stehen als Allianz zusammen. Die Türkei ist gut ausgestattet und kann ihren Luftraum gut selber schützen. Es geht vor allem darum, dass sich die Allianz mit der Türkei besser abstimmt. Im Notfall heißt das auch, darauf einzuwirken, dass der türkische Finger nicht zu nah am Abzug sitzt.

STANDARD: Russland ist durchaus fähig, sich abzustimmen, zum Beispiel gibt es mit Israel eine ständige Abstimmung über Luftraumaktivitäten.

Kühn: Es gibt ein "Memorandum of Understanding" mit Israel und bilaterale Abkommen mit verschiedenen Nato-Staaten. Die Türkei und Russland haben aber kein bilaterales Abkommen, und das ist schlecht. Darüber muss gesprochen werden, am besten im Nato-Russland-Rat. Der wurde allerdings vonseiten der Nato nach der völkerrechtswidrigen Annektierung der Krim durch Russland suspendiert. Es wäre im Interesse aller, ein gemeinsames Abkommen der Nato-Staaten mit Russland zu erarbeiten. Vor allem um militärische Zwischenfälle zu vermeiden, von denen es in den letzen eineinhalb Jahren weit mehr als 60 gab, auch in Europa.

STANDARD: Wie ordnen Sie die Nuklearaufrüstung Russlands hier ein?

Kühn: Es gibt in der Nato eine Diskussion darüber, ob die Nato ihre Nukleardoktrin ändern soll, um auf das nukleare Säbelrasseln Russlands zu reagieren. Das ist allerdings gefährlich. Aus den USA gibt es ja den Vorwurf, Russland habe unerlaubterweise eine bestimmte Rakete getestet, die eventuell auch atomar bestückt werden könnte. Sollte Russland dieses System zu Ende entwickeln und sogar stationieren, könnte das unter Umständen eine Neustationierung von nuklearen Systemen der Nato in Europa nach sich ziehen. Dann wären wir wieder tief im kalten Krieg angelangt. Auch vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die Kommunikation mit Russland wiederaufzunehmen, sich aber nicht auf Aufrüstungsspielchen einzulassen.

STANDARD: Eine weitere, vergleichsweise geringe Provokation ist die geplante Aufnahme Montenegros als 29. Nato-Mitglied. Wie wird Russland darauf regieren?

Kühn: Ob Montenegro in der Nato ist oder nicht, wird wohl weder die Zukunft der Nato maßgeblich beeinflussen noch das Verhältnis zwischen Russland und der Nato. Trotzdem: Russland sagt seit Mitte der 90er-Jahre, dass es die Nato-Ostererweiterung als Bedrohung empfindet. Diese Wahrnehmung sollte die Nato ernst nehmen. Ein weiterer Grund, der dafür spricht, die Kommunikation mit Russland im Nato-Russland-Rat wiederaufzunehmen. (Manuela Honsig-Erlenburg, 1.12.2015)