Johannes Rauch, Umweltlandesrat in Vorarlberg, will mehr Mut der Grünen zum Diskurs.

Foto: Dietmar Stiplovsek

STANDARD: Sie fordern eine Grundsatzdebatte bei den Grünen, ein Ende der Behäbigkeit. An wen richtet sich die Aufforderung?

Rauch: Ich delegiere die Gesamtverantwortung nicht an die Bundesspitze, wir haben eine gemeinsame Verantwortung. Die nehme ich jetzt wahr, indem ich eine Grundsatzdebatte, klare Positionen der Grünen einfordere.

STANDARD: Was sollen die Grünen diskutieren?

Rauch: Europa und damit auch Österreich stehen vor einer enormen Herausforderung. Durch die dramatische Zunahme an Flüchtlingen sind die Defizite und Versäumnisse europäischer Politik sichtbar geworden: Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Armut, Entsolidarisierung. Die Menschenrechte stehen zur Disposition, siehe Frankreich. Unsere Demokratien sind zerbrechlich geworden. Man hat bei den Grünen nicht rechtzeitig erkannt, welche Brüche sich durch das Auseinanderdriften der Gesellschaft ergeben. Wenn in einer Stadt wie Wien ein Drittel der Wählerinnen und Wähler für eine ausländerfeindliche und antieuropäische Partei stimmen, ist das ein Alarmsignal. Dem müssen sich die Grünen stellen, nette Plakate reichen da nicht mehr.

STANDARD: Wie wollen Sie diese Debatte durchsetzen? Kritik ist bei der Parteispitze ja nicht erwünscht.

Rauch: Sorry, dann muss sich eine kritische Masse an Menschen organisieren und sich Gehör verschaffen. Der Anstoß muss auch aus den Ländern kommen. In den Bundesländern mit Regierungsbeteiligung läuft die Diskussion nicht theoretisch ab, da geht es um Entscheidungen. Den ersten Anlauf haben wir mit einem Antrag beim Bundeskongress gemacht. Ich bin auch selbstkritisch: Viel zu lange hat sich eine Kultur breitgemacht, sich erste Reihe fußfrei anzuschauen, was da passiert. Nach dem Motto: passt eh.

STANDARD: Was passt nicht mehr?

Rauch: Wir müssen die Probleme klar benennen, um Lösungen ringen. Marketing allein reicht nicht. Es reicht auch nicht mehr, nur gegen die FPÖ zu wettern. Damit es keine Missverständnisse gibt: Es ist wichtig und richtig, dass wir der härteste Widerpart zur FPÖ sind. Es ist nicht richtig, FPÖ-Wählerinnen und -Wählern mit Abgehobenheit und Verachtung zu begegnen. Das ist eine völlige Verkennung der Situation.

STANDARD: Warum ist Ihnen die FPÖ-Wählerschaft so wichtig?

Rauch: Definitiv nicht alle, die FPÖ wählen, sind Vollidioten und Rechtsextreme. Ein Gutteil dieser Menschen befindet sich in Notlagen, hat keine Hack'n, kann die Miete nicht bezahlen, ist überschuldet. Sie können an dem, was da schön über die Bildschirme flimmert und bunt abgebildet ist, nicht teilhaben. Da entsteht Frustration. Der Riss in der Gesellschaft ist unübersehbar, ein gutes Drittel lebt halbwegs okay, aber zwei Drittel sind völlige Verlierer oder drohen abzurutschen, das kann nicht funktionieren. Für deren Probleme – Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Armut, die insbesondere Frauen betrifft – und für ihre gesellschaftliche Teilhabe müssen wir Lösungen finden.

STANDARD: Sie sehen die Grünen als neue Sozialdemokraten?

Rauch: Das ist viel zu hoch gegriffen. Ich komme aus der sozialen Arbeit. Ich weiß, dass Menschen, wenn sie entwürdigend behandelt werden, mit Radikalisierung reagieren. Es ist unser Job, uns um diese Leute zu kümmern. Wenn es niemand mehr tut, müssen es wir Grünen umso mehr tun.

STANDARD: Haben Sie die Lösungen?

Rauch: Wir befinden uns in einer Zeit der Umwälzungen. Das macht auch mich oft ratlos, hilflos, wütend. Es macht eine Mischung aus ganz vielen Gefühlen, die man als Politiker eigentlich nicht haben darf. Weil man angeblich immer gleich wissen muss, wie es geht. Ich weiß es aber oft nicht, und dem muss ich mich stellen, um zu einer gemeinsamen Strategie zu kommen. Ich kann dieses fertige, herausgestanzte vermeintliche Wissen, dieses Schlagzeilen-Blaba nicht mehr hören.

STANDARD: Wo wollen Sie die Suche nach Lösungen beginnen?

Rauch: Ich glaube, dass wir beim Grundbedürfnis Wohnen anfangen müssen. Wir müssen das Wohnen auf ein leistbares Niveau bringen. Wenn wir das nicht schaffen, muss man über andere Dinge gar nicht diskutieren. Zweites Grundbedürfnis ist ein Einkommen, eine Grundsicherung, mit der ich mein Leben halbwegs selbstbestimmt finanzieren kann.

STANDARD: Wie schaffen die Grünen Arbeitsplätze?

Rauch: Der Status quo: In der Produktion brechen uns massenhaft Arbeitsplätze weg, auch im Handel wegen des boomenden Onlinehandels. Da werden wir auf Dauer einen zweiten Arbeitsmarkt finanzieren müssen. Denn jede Form der Beschäftigung ist besser als die Belastung durch Arbeitslosigkeit. Da muss man Geld in die Hand nehmen.

STANDARD: Hat Österreich dafür die Mittel?

Rauch: Für andere Dinge hat man die Mittel auch. Beispielsweise für sinnlose Infrastrukturprojekte. Muss ich einen Koralmtunnel bauen? Nein. Künftig werden wir die Budgets radikal so trimmen müssen, dass zuerst das Grundbedürfnis Wohnen und Arbeit abgedeckt ist. Der Rest kommt nachher. Klar kostet die Versorgung von Flüchtlingen Geld, klar belastet das die Sozialbudgets, und klar ist das nicht auf Dauer strukturell finanzierbar.

STANDARD: Wie dann?

Rauch: Die Diskussion um Vermögenssteuern müssen wir neu führen oder eine befristete Solidarabgabe zur Finanzierung genau dieser Aufgaben andenken.

STANDARD: Wäre das Verständnis für eine Solidarabgabe gegeben?

Rauch: Man kann und muss darum werben. Sagen, dass es die Alternative zwischen Solidarabgabe und sozialen Verwerfungen gibt. Letztlich wird man es einfach tun müssen. Das große Elend dieser Bundesregierung ist aber, dass sie keine Entscheidungen trifft. Nicht einmal falsche.

STANDARD: Färbt diese Untätigkeit auf die Grünen ab?

Rauch: Eher mangelt es an der Vorstellung, wie man eine kraftvolle Alternative entwickeln könnte. Eine engagierte Diskussion ist notwendig. Wir müssen einen Aushandlungsprozess starten. Da steht am Anfang die Frage: Wie gehen wir mit der Situation um? Was bedeuten unsere Grundsätze noch, beispielsweise jener der Gewaltfreiheit im Zusammenhang mit dem IS. Wir, und damit meine ich nicht nur die Grünen, müssen die Sprachlosigkeit überwinden, die Unkultur der Short Messages. Wir müssen wieder zu einer Qualität der Auseinandersetzung, des Diskurses kommen. Daran können wir auch scheitern, aber wenn wir uns nicht stellen, scheitern wir auch. Garantiert. (Jutta Berger, 2.12.2015)