Wien – Er sei kein so guter Schriftsteller wie Nathaniel Hawthorne, meint der junge Mann, der sich eines Abends im Haus eines alten Seemanns (Brendan Gleeson) einfindet. Er könne deshalb nicht versprechen, dass er seine Geschichte so spannend zu Papier bringen werde, wie es ihr gebühre. Doch Hawthorne sei eben nicht da, und außerdem würde er dafür bezahlen, dass sein Gastgeber nach Jahrzehnten sein Schweigen breche. Wenn am Ende von Im Herzen der See (In the Heart of the Sea) der Morgen über Nantucket, Massachusetts, graut, hat Herman Melville seine Inspiration für Moby Dick gefunden und US-Regisseur Ron Howard einen klassischen Seefahrerfilm inszeniert, der sich ganz auf alte Tugenden und neue Schauwerte verlässt.
Die außergewöhnliche Geschichte des Walfangschiffes Essex, mit der Melville nach Hause geht, sei die seines Kapitäns und seines Ersten Offiziers, weiß der Matrose bei flackerndem Kerzenlicht zu berichten, und immer wenn seine Erzählung, die der Film nun in Form von Rückblenden vom Stapel lässt, auf eine neue dramatische Wendung zusteuert, halten der damalige Schiffsjunge und die Handlung für kurze Zeit inne. Gute Geschichten müssen eben auch gut erzählt werden können.
Kampf zwischen Moral und Kapital
Auch deshalb steht In the Heart of the Sea von Beginn an im Zeichen eines Duells: Der virile Offizier Owen Chase (Chris Hemsworth) ist ein Mann der Tat, der gerne auch selber in die Takelage klettert und das Schiff wieder auf Kurs bringt, während der dünkelhafte Kapitän Pollard (Benjamin Walker) seine Stellung nur familiärem Besitz verdankt und seine fragwürdigen Entscheidungen im Interesse der habgierigen Reeder im Heimathafen trifft. In the Heart of the Sea erzählt somit auch exemplarisch vom Kampf zwischen Moral und Kapital – im Wissen, dass dieser im Jahr 1820 nicht nur unter Walfängern längst entschieden ist.
Ron Howard, der sich bereits in seinem Rennfahrerfilm Rush (mit Chris Hemsworth als James Hunt) sowie in seiner Verfilmung des legendären Interviews von David Frost mit Richard Nixon (Frost/ Nixon) der Dramatik des Zweikampfs verschrieb, spielt das Kräftemessen zunächst anhand von Standardsituationen durch: ein erster erfolgreicher Walfang, eine erste kritische Konfrontation zwischen den Offizieren, ein erster überstandener Orkan. Doch auch wenn Mensch und Material gerade noch standhalten, ist jeder Sieg nur ein Etappengewinn, bis die Urgewalt der Natur zum entscheidenden Schlag in der Gestalt des weißen Wals ausholt.
Wenig Tiefgang
So sehr Moby Dick im kollektiven Bewusstsein der Amerikaner verwurzelt ist, so ausführlich buchstabiert In the Heart of the Sea als Hollywoodblockbuster seine Geschichte als packende Reise ins Ungewisse. Auch wenn spätestens mit dem Auftauchen des Wals und dem Untergang der Essex immer wieder von psychischen und ethischen Grenzüberschreitungen die Rede ist – für die Übertretung dieser Grenzen und den damit einhergehenden Blick in den Abgrund menschlicher Existenz interessiert sich dieser Film nur am Rande. In the Heart of the Sea erzählt eine formidable Abenteuergeschichte, aus der erst das Genie Melvilles glücklicherweise keinen Abenteuerroman hat werden lassen. (Michael Pekler, 2.12.2015)