St. Gotthard – Am 1. Juni 2016 wird es endlich soweit sein: Mit einem Staatsakt, der gemessen an der sonst eher typischen Bescheidenheit der Schweizer fast wie Verschwendungssucht wirkt, wird der längste Eisenbahntunnel der Welt feierlich eröffnet – der 57 Kilometer lange Gotthard-Basistunnel zwischen Erstfeld im Kanton Uri und Bodio im Südkanton Tessin.

Der Countdown läuft und die Vorfreude wird von Tag zu Tag größer. Von "historischen Dimensionen" ist die Rede, auch vom "Stolz einer ganzen Nation. Wenn die Schweiz dann mit Staatsgästen aus ganz Europa das Herzstück der neuen Eisenbahn-Transversale durch die Alpen (NEAT) einweiht, werde "mit der großen Kelle angerichtet", staunte die "Neue Zürcher Zeitung": Damit das Bauwerk – es ist noch sieben Kilometer länger, als der Eurotunnel unter dem Ärmelkanal zwischen Frankreich und England – kräftig gefeiert werden kann, hat die Regierung in Bern zwölf Millionen Franken bewilligt (11,1 Millionen Euro).

Milliardenprojekt

Dabei wirken die Partykosten gemessen an den Dimensionen dieses Jahrhundertwerks wie die sprichwörtlichen Banker-Peanuts. 12,2 Milliarden Franken wurden allein für den Gotthard-Basistunnel veranschlagt. Für das Alpentransit-Projekt – samt Tunnelröhre durch den Lötschberg und dem Ceneri-Basistunnel zwischen Bellinzona und Lugano (Inbetriebnahme Ende 2020) sowie für die Gleisanlagen dazwischen – wird mit 23 Milliarden Franken (21,3 Milliarden Euro) gerechnet.

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Es ist das größte Investitionsprojekt in der Geschichte der Eidgenossenschaft. Und wie alles, was in der Schweiz von nationaler Bedeutung ist, hätte es ohne Zustimmung des Volkes bei einem Referendum (im November 1998) nicht in Angriff genommen werden können. Kein Wunder also, dass in den ersten Zügen, die am 1. Juni 2016 durch den neuen Gotthard-Tunnel fahren, auch hunderte "Normalbürger" sitzen dürfen. Die Tickets werden Anfang 2016 unter wahrscheinlich Zehntausenden von Bewerbern verlost.

Regulärer Fahrbetrieb Ende 2016

Wer keinen der Premierfahrscheine ergattern kann, wird sich gedulden müssen. Denn die Aufnahme des regulären Bahnbetriebs ist vor allem wegen der geplanten mehr als 3.000 Testfahrten bis zur endgültigen Freigabe der Strecke erst für den 11. Dezember 2016 vorgesehen.

Dann endlich kann der alte, 1882 in Betrieb genommene Gotthardtunnel zwischen Göschenen und Airolo in die Ruhestandsreserve geschickt werden. Auch der Bau dieses rund 15 Kilometer langen Scheiteltunnels auf etwa 1.150 Metern Meereshöhe durch das Gotthardmassiv war zu seiner Zeit eine weltweit bewunderte Leistung.

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Was den neuen vom alten Tunnel unterscheidet, sind abgesehen von der viel größeren Länge, vor allem die enorme Tiefe, Gradlinigkeit und Ebenerdigkeit der Gleisstrecke. Der Basistunnel verläuft bei nur geringfügigen Steigungen – Experten sprechen daher von einer "Flachbahn" – sowie ohne enge Kurven auf einer Höhe von nur maximal 550 Metern über dem Meeresspiegel. Statt etwa 1.100 Meter Gebirgsmasse wie beim alten türmt sich über dem neuen Tunnel bis zum Gipfel des Gotthards eine Felsabdeckung von 2.300 Metern auf.

Geradlinige Schweizer

Dank dieser ingenieur- und bautechnischen Meisterleistung, an der zeitweise 2.400 Arbeitskräfte aus ganz Europa beteiligt waren, besteht seit dem Tunneldurchstich im Oktober 2010 eine weitgehend ebene Gleisbettverbindung zwischen Nordsee und Mittelmeer. Die Vorteile versuchten die Werbefachleute des Projekts "Gottardo 2016" so deutlich zu machen: "SchweizerInnen sind gradlinig. Sie wählen die schnellste Verbindung zwischen Nord und Süd."

Personenzüge können den Tunnel mit Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 250 Stundenkilometern durchqueren. Die Verbindung zwischen Zürich und Lugano soll sich um 45 Minuten auf rund zwei Stunden verkürzen. Verständlich, dass solche Zahlen in einem Land Begeisterung wecken, dessen Einwohner mit rund 2.300 Schienenkilometern pro Person und Jahr als Bahnreise-Weltmeister gelten.

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Doch wichtiger als größere Bequemlichkeit für Reisende sind für Volkswirtschaft und Umwelt die Effekte im Güterverkehr. Pro Tag können künftig 260 Güterzüge das Gotthardmassiv durchqueren statt bisher maximal 180. Damit soll ein Teil der Gütertransporte zwischen Nord- und Südeuropa von der Straße auf die Schiene verlagert werden.

Der Tunnel – ein Umweltschutzprojekt

"Mit dem Bau der neuen Gotthardbahn verwirklicht die Schweiz eines der größten Umweltschutzprojekte Europas", heißt es beim Bauträger AlpTransit Gotthard AG. "Es trägt wesentlich zum Schutz der Alpen bei." Allerdings nimmt der Gütertransport insgesamt immer mehr zu. Eine größere Reduzierung der Abgas-Belastung durch Straßentransporte erwarten Experten erst, wenn weitere neue Alpentunnel fertig werden.

Dazu gehört neben dem geplanten Mont-Cenis-Basistunnel zwischen Italien und Frankreich (ebenfalls 57 Kilometer, kaum vor 2026) der Brenner-Basistunnel zwischen Österreich und Italien. Dieses Kernstück der neuen Brennerbahn soll 64 Kilometer lang und damit zum nächsten "Tunnelweltmeister" werden. Doch bis Licht am Ende der Riesenröhre unter dem Brenner zu sehen ist, wird viel Zeit vergehen. Die Arbeiten haben im März 2015 begonnen, die Fertigstellung ist für 2026 geplant. (APA, dpa, 2.12.2015)