Foto: jan zaschkoda

Der ehemalige Flughafenmitarbeiter Alex ist vor elf Jahren aus seinem Heimatland Gambia geflohen, da er von der dortigen Regierung verdächtigt wurde, einen Putsch geplant zu haben. Für diese Anschuldigung musste Alex bereits fünfjährige Gefängnisstrafe verbüßen. "Es war die Hölle auf Erden", schilderte Alex; die Narben auf Händen und Brust sind bleibende Erinnerung an diese schrecklichen Zeit. Denn Alex wurde gefoltert – sein Körper wurde mit Zigaretten und Messern bearbeitet, und auch simuliertes Ertränken (Waterboarding) musste er über sich ergehen lassen. Auch Familienmitglieder von Alex kamen ins Gefängnis oder wurden aufgrund des Kontaktes zu ihm verhaftet.

Diese Erlebnisse und die Angst, wieder in dieser Hölle eingesperrt zu werden, waren Grund genug für Alex, sein Heimatland, das noch immer von einem diktatorischen Präsidenten regiert wird, ein für alle Mal zu verlassen. Der gambische Präsident Jammeh tyrannisiert seit seinem Putsch 1994 das kleine Gambia, laut Alex ist die politische Situation vor Ort äußerst schlecht. JournalistInnen werden verhaftet und StudentInnen auf der Straße ermordet. Menschenrechte und Demokratie werden von Präsident Jammeh mit Füßen getreten, stattdessen bereichert er sich auf Kosten der Bevölkerung.

Meine Familie musste ich zurücklassen

2004 verließ Alex schließlich sein Heimatland. Der Weg aus Gambia führte ihn über Senegal, das bis auf einen kleinen Küstenstreifen Gambia vollständig umschließt. Da die Grenze zwischen den zwei Ländern lediglich auf dem Papier existiert, musste Alex weder Grenzzäune noch -soldaten überwinden. In Dakar, der Hauptstadt Senegals, angekommen, erkundigte sich Alex nach jemandem, der ihm bei der Flucht nach Europa helfen könne. Die Menschen vor Ort haben ihm einen sogenannten "Schlepper" vermittelt, der in Dakar "connection man" genannt wird. 1.000 US Dollar würde die Flucht nach Europa kosten, erklärte ihm sein Mittelsmann, doch Alex, der nicht das nötige "Kleingeld" besaß, hatte Glück – er erhielt sein "Fluchtticket" für lediglich 700 US Dollar.

Durch die Sahara und übers Mittelmeer

Von Dakar aus ging es mit einem alten Zug weiter nach Bamako, der Hauptstadt Malis. In Bamako organisierte Alex' connection man einen LKW, der mit über 200 Menschen beladen wurde, die allesamt auf dem Weg in ein sicheres Leben waren. Die lebende Fracht wurde in Niger ausgeladen, wo Alex die darauffolgende Woche ausharren und warten musste, bis sein connection man die Weiterfahrt nach Libyen abwickeln konnte. Alex hatte bereits mehrere tausend Kilometer Strecke hinter sich gelassen – unter anderem auch durch die Wüste Sahara – bis er schließlich Tripolis erreichte. Zwar hatte er bereits mehr als die Hälfte des Weges nach Europa bewältigt, doch nun stand ihm wohl der gefährlichste Teil seines langen Weges bevor: die Überfahrt übers Mittelmeer, welche für viele Flüchtlinge den Tod bedeutet.

Als ich Alex fragte, ob er Angst vor dieser lebensgefährlichen Überfahrt hatte, antwortete er bestimmt: "Ich hatte keine Angst im Mittelmeer, weil ich die Hölle – die Zeit im Gefängnis – schon überlebt habe". Alex trat mit rund 100 weiteren Flüchtlingen die nächtliche Odyssee über das Mittelmeer an, und sie hatten Glück, denn sie überlebten die 12-stündige Überfahrt in dem kleinen motorisierten Fischerboot. Schließlich wurden die Passagiere wie viele der Flüchtlinge, die die selbe Route genommen hatten, von der Wasserrettung auf die vorgelagerte italienische Insel Lampedusa, dem Tor nach Europa, gebracht. Hier wurde Alex zuerst vom Roten Kreuz versorgt, ehe ihm seine Personalien auf- und seine Fingerabdrücke abgenommen wurden. Für einige Zeit war Alex in einem kleinen Camp in Italien untergebracht und machte sich, nachdem er von einem Freund aus der Schweiz Geld bekommen hatte, weiter auf den Weg nach Österreich, über das er schon viel gehört und gelesen hatte.

Alex Ankunft in Österreich – Suppe trinken und Kartoffeln essen

Mit dem Zug gelangte Alex nach Österreich und erhielt von einem Gambier, den er am Wiener Westbahnhof angesprochen hatte, die Information, dass er sich ins Erstaufnahmezentrum Traiskirchen begeben sollte. Dort verbrachte er einige Monate und wurde dann in ein abgelegenes Asylheim in Tirol transferiert. Dort lebten weitere 50 Flüchtlinge, darunter auch andere Afrikaner, die einen ähnlich schicksalhaften Weg hinter sich hatten. Die Zeit in diesem von der Außenwelt fast abgeschnittenen Asylheim war geprägt von sehr schlechten Erfahrungen. "Die Menschen in diesem kleinen Dorf waren sehr unfreundlich, niemand wollte mit mir reden. Ich durfte keine Schule besuchen und im Winter schneite es den ganzen Tag. Ich sollte den ganzen Tag im Haus bleiben, nur Suppe trinken und Kartoffeln essen. Das ist keine Integration", berichtete Alex. Obwohl er wusste, dass er die Grundversorgung verlieren würde, wenn er das für ihn zuständige Bundesland Tirol verlassen würde, beschloss Alex trotzdem nach Wien zu gehen.

Mama Afrika alias Frau Bock ist sehr wunderbar

So kam er ein weiteres Mal nach Wien, wo er von einer Frau erfuhr, die ihm helfen könnte. Alex, der nun völlig mittellos war, suchte die liebevoll "Mama Afrika" getaufte Frau auf, die gemeinsam mit ihrem Team seit mehreren Jahren Flüchtlinge in Wien betreut und sogar Unterkünfte bereitstellt. "Frau Bock ist sehr wunderbar – was sollte ich sonst machen, wenn es keine Frau Bock gäbe? Kriminell werden? Sie ist da für uns! Gottseidank gibt es Frau Bock", schwärmte Alex in höchsten Tönen von ihr und ihrem Flüchtlingsprojekt. Auch gegenwärtig wohnt Alex noch in einem Zimmer, das vom Flüchtlingsprojekt finanziert wird und in dem wir uns auch für dieses Interview getroffen haben. Stolz zeigte Alex mir seinen kleinen Kühlschrank im Zimmer, der mit Brot, Gemüse und Milch befüllt war, sowie die 15 Euro Taschengeld und zwei Gutscheine, die er wöchentlich erhält. In dem vom Verein bereitgestellten Deutschkursen habe er auch Deutsch gelernt, erzählt Alex stolz. Aber auch abseits dieser non-profit Organisation habe er in Wien viele gute Erfahrungen gemacht. Außerdem kann er hier auch studieren und sich sogar ein wenig Geld als Reinigungskraft und Türsteher dazuverdienen. "Ich kenne viele gute Österreicher, die mir mit Geld und Arbeit helfen", freut sich Alex und erzählt von einer Studienkollegin, die ihm eine Jahreskarte der Wiener Linien bezahlte.

Ein schier endloser Asylmarathon

Natürlich sprachen wir auch über das Asylverfahren, das sich bei Alex über insgesamt elf Jahre hinzog. Da er Asyl als politisch Verfolgter ansuchte, musste er etliche Beweise sowie ärztliche Atteste vorweisen, die er in einem Aktenkoffer zusammen mit den Dokumenten, die sich im Laufe des langjährigen Verfahrens ansammelten, in seinem Zimmer aufbewahrte. Trotz dieser schriftlichen Beweise erhielt Alex relativ schnell einen negativen Asylbescheid, woraufhin er Berufung einlegte. Auch das zweite Ansuchen wurde abgelehnt. Erst beim dritten und letzten Ansuchen entschied das Gericht, dass es bei seinem Fall zu groben Fehlern gekommen ist und somit das gesamte Asylverfahren nochmals ganz von vorne aufgearbeitet werden müsse.

Nach insgesamt fünf Jahren Asylverfahren musste somit nun sein Akt von Grund auf neu bearbeitet werden – wieder etliche Interviews und Einvernehmungen standen ihm bevor. "Während das Asylverfahren läuft, ist alles möglich. Niemand weiß, ob man Asyl oder humanitäres Bleiberecht bekommt. Während dieser Zeit sieht man viele Abschiebungen von Kollegen und man hat Angst über seine Zukunft", erzählte Alex eindrücklich. "Es ist besser, wenn das Asylverfahren nicht lange dauert, denn dann weiß man über sein Schicksal bescheid." Alex hatte große Angst vor einer Abschiebung; aufgrund der ungewissen Zukunft kamen auch noch psychische Probleme hinzu. Es dauerte weitere sechs Jahre bis sein Fall endlich abgeschlossen wurde. Doch die 11 Jahre der Ungewissheit, des langen Wartens und der Angst wieder abgeschoben zu werden, haben sich zumindest für Alex ausgezahlt. Vor wenigen Wochen hat er seinen positiven Asylbescheid erhalten, den er mir freudig zeigte.

Für seine Freiheit zahlte Alex einen hohen Preis – er musste seine Frau und zwei Söhne in Gambia zurücklassen. Seinen jüngsten Sohn habe Alex bis zum heutigen Tag noch nicht zu Gesicht bekommen, da er noch vor dessen Geburt aus Gambia fliehen musste. Seither sind gut elf Jahre vergangen, in welcher Zeit Alex' Kinder bereits zu jungen Erwachsenen herangewachsen sind.

Alex Blick in eine sichere Zukunft

Nun kann Alex endlich wieder in eine sichere Zukunft blicken und auf die Frage, was er sich für die Zukunft erhoffe und was seine Pläne seien, antwortete er, dass er zuerst seine Familie, die er seit einer halben Ewigkeit nicht gesehen hat, nach Österreich holen möchte. Auch will er sein Politikwissenschaftsstudium beenden und ganz normal in Österreich arbeiten. "Vielleicht in der Politik – alles ist möglich", träumte er vor sich hin. Zum Schluss fügte Alex hinzu: "In jedem Land, ob in Afrika, in Amerika oder im Himmel, gibt es gute und schlechte Menschen. Ich habe in Österreich viele gute Erfahrungen und auch schlechte Erfahrungen gemacht. So ist das Leben!". Am Ende des Interviews bedankte sich Alex bei allen Menschen, die ihm in Österreich geholfen haben, ganz besonders aber bei Frau Bock und ihren MitarbeiterInnen, ohne deren Unterstützung er in dieser unsicheren Zeit nicht weiter gewusst hätte. (Jan Zaschkoda, 2.12.2015)