Eines ist klar: Die sogenannte Flüchtlingskrise lässt sich nicht dadurch lösen, dass man die Flüchtlinge möglichst in die Nachbarländer schleust. Viele werden bleiben, und damit lässt sich schon die nächste Krise erahnen: die der Integration. Um diese zu bewältigen, hat Minister Sebastian Kurz ein "Integrationspaket" vorgelegt, das vorsieht, dass Flüchtlinge neben der Sprache auch "europäische Werte" lernen sollen. Dass Werte immer umstritten sind, ist wohl für alle Beteiligten offenkundig. Deshalb fällt die Einigung über die Grundwerte, die vermittelt werden sollen, auch so schwer. Dass eine verpflichtende "Werteschulung" grundsätzlich aber der richtige Weg ist, scheint nicht fraglich zu sein.

Aber: In welchem Sinn kann man Werte eigentlich lernen? Und falls ja, was könnte das nützen?

Werte lassen sich auswendig lernen. Dann wird jemand am Ende einer achtstündigen Schulung vielleicht aufzählen können, dass im neuen Heimatland etwa die Gleichberechtigung von Frauen, Demokratie, Religionsfreiheit oder Mülltrennung wichtige Werte sind. Aber was ist damit gewonnen? Inwiefern wird es Einstellungen oder gar Handeln potenzieller Neubürger beeinflussen?

Sozialwissenschaftlich ist unumstritten, dass Werte nicht unmittelbar handlungsrelevant sind, auch wenn sie in Meinungsumfragen als generelle Bezugspunkte von Einstellungen gelten. Die Kluft zwischen Einstellung und Verhalten ist ein sozialwissenschaftlicher Allgemeinplatz. Das kennen wir aus eigener Erfahrung nur zu gut: Eine intakte natürliche Umwelt gilt als hoher Wert. Dennoch ist unser Alltagsverhalten alles andere als umweltfreundlich. Auch die Gleichstellung der Geschlechter sehen die meisten Österreicher als wichtig an. Aber die Löhne von Frauen liegen immer noch weit unter denen der Männer. Hinsichtlich der Gleichverteilung häuslicher Versorgungs- und Pflegearbeiten haben die meisten inländischen Paschas noch einiges aufzuholen. Sicherlich, im Feld der Gleichberichtigung haben über die Jahrhunderte enorme Lernprozesse stattgefunden. Seit gut 100 Jahren dürfen Frauen hierzulande wählen und studieren. Fremdbestimmtes Verheiraten ist gesetzlich untersagt und weithin gesellschaftlich verpönt. Dass die Umsetzung von Wertorientierungen in Recht und Alltagspraktiken erstritten werden muss und langfristiger Lernprozesse bedarf, wird immer wieder offenkundig.

Unser Leben besteht großteils aus erlernten Routinen, die zumeist unhinterfragt ablaufen. Allenfalls wenn diese sich nicht mehr bewähren, bestehen Chancen auf Veränderung. Oder wenn es Umbrüche im Leben gibt, bei denen Verhaltensveränderungen angesagt sind, etwa nach einem Herzinfarkt mehr Sport zu treiben und sich gesünder zu ernähren. Oder im Fall einer Schwangerschaft keinen Alkohol zu trinken.

Kognitive Prozesse wie das Wissen um (eigene) Wertorientierungen, Einstellungen, Präferenzen oder auch praktisches Know-how sind sicherlich Teil unseres Handelns. Aber Praktiken, sei es im privaten Alltag wie im Berufsleben, bedürfen einer geeigneten soziomateriellen Infrastruktur, also etwa ausreichend Kindergartenplätzen, eines leistungsstarken öffentlichen Verkehrs, schulischer Sprachförderung (nicht nur) von Flüchtlingen, um wirksam werden zu können. Dies wird bei politischen Maßnahmen gern vergessen, insbesondere dann, wenn sie vor allem auf Aufklärung und Bewusstseinsbildung setzen wie z. B. beim Umweltschutz.

Was ist also von der anvisierten Werteschulung zu erwarten? Solange sie sich auf eine achtstündige Schulung beschränkt, nichts. Europäische Werte werden völlig abstrakt bleiben. Besser ist schon die geplante Verknüpfung mit dem Sprachunterricht. Am besten wäre aber, die unmittelbare Begegnung von Flüchtlingen und Einheimischen zu fördern. Sei es in Lerncafés, die beispielsweise von der Caritas organisiert werden, wo themenbezogen Deutsch geübt wird. Sei es in Sportvereinen, wo gemeinsam gekickt oder geturnt wird. Und nicht zuletzt am Arbeitsplatz. Dass direkte Begegnungen helfen, Vorurteile abzubauen und Perspektiven zu gewinnen, zeigen Berichte über die Erfahrungen bei den zivilgesellschaftlichen Hilfsaktionen an Bahnhöfen und vielen anderen Orten.

Integration ist ein wechselseitiger Prozess. Er bedarf Anstrengungen auf beiden Seiten, der autochthonen Bevölkerung wie der Flüchtlinge. Und eine Reflexion über Werte könnte auch auf inländischer Seite nicht schaden: Menschen, deren Leben bedroht ist, Schutz zu gewähren ist einer der höchsten Werte und globales Menschrecht. Das scheint vielen nicht bewusst zu sein.

Integration ist langwierig. Ohne zivilgesellschaftliches Engagement möglichst vieler wird sie nicht gelingen. Dieses bedarf der großzügigen finanziellen Unterstützung mit öffentlichen Mitteln.

Die Begriffe Teilhabe, Anerkennung und Partizipation spielen bei Integration eine entscheidende Rolle. Es geht nicht um "Vermittlung" von Werten, sondern darum, den Flüchtlingen Würde durch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit zu geben. Durch die Einrichtung von innovativen lokalen Lernräumen zur praktischen Aneignung von Werten können alle Seiten profitieren, für heute und morgen. Denn angesichts des Klimawandels sind noch sehr viel mehr Flüchtlinge zu erwarten. (Beate Littig, 2.12.2015)