Heiko Thieme ist ein erfahrener Broker.

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STANDARD: Sie gelten als unverbesserlicher Optimist. Wie sehen Sie sich selbst?

Thieme: Ich bin ein rationeller Optimist. Ich sehe durchaus Fakten, aber ich sehe die Welt positiv. Ich sehe bei jedem Problem eine Lösung, während der Pessimist jede Lösung als Problem erkennt.

STANDARD: Was bringt einen Optimisten dazu, ein Wertpapier zu verkaufen?

Thieme: Verkäufe sind rein preisgebunden. Im Grunde betrachte ich nie das Unternehmen, sondern immer nur den Preis. Als Anleger suche ich, wie jemand auf dem Wochenmarkt, das Sonderangebot. Ob eine Flasche Wein oder eine Aktie, die eigentlich doppelt so viel wert ist, aber nicht so gehandelt wird. Eigentlich bin ich als Optimist wie ein Lumpensammler, der das nimmt, was sonst keiner haben will.

STANDARD: Woran erkennt man solche Situationen?

Thieme: Das sieht in der Praxis folgendermaßen aus: Wenn ein Titel im Dax oder im Dow Jones stark fällt, wird es interessant. Dann müssen die Kriterien erfüllt sein: Kann es überleben? Hat es ein gutes Produkt? Hat es genug Cash, um überleben zu können, und hat es das Management, um das durchzustehen? Wenn ich merke, es könnte wieder hinaufgehen, fange ich zu kaufen an. Dann kommt das Beten. Lieber Gott, hoffentlich hat Heiko Thieme recht.

STANDARD: Was kommt nach dem Beten?

Thieme: Dann muss man durchhalten wie eine Schildkröte beim Marathonlauf – das ist ganz wichtig. Aber es kann auch schnell gehen. Wenn eine Aktie um 20 Prozent gestiegen ist, dann bin ich auch bereit, wieder auszusteigen.

STANDARD: Sie sind seit den 1970er-Jahren an der Börse aktiv. Hätten Sie je damit gerechnet, dass sie Negativzinsen oder Anleihenkaufprogramme von Notenbanken erleben werden?

Thieme: Nein. Dabei zeichnet es mich sonst aus, dass ich Dinge vorwegnehmen kann, die sich die meisten nicht einmal vorstellen können.

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Nach einem Anstieg bis auf 20.000 Punkte erwartet Heiko Thieme für den Dow Jones einen stärkeren Rücksetzer.

STANDARD: Kaum Wachstum, kaum Inflation und kaum Zinsen – gibt es einen Ausweg aus dieser Situation?

Thieme: Ja, deshalb sollte man auch kein Geld in den Rentenmärkten anlegen. Am Ende des Jahrzehnts wird bei zehnjährigen Anleihen, egal ob in Österreich, Deutschland oder den USA, wieder eine Drei vor dem Komma stehen. Vielleicht sogar wieder eine Vier, was normal wäre. Das ist der langfristige Trend, auf den wir uns zubewegen. Die derzeitige Anomalie war wegen einer Notsituation, denn die Immobilienkrise in den USA hatte uns an den Rand des Totaleinbruchs unseres Wirtschaftssystems gebracht. Wir standen vor einem Abgrund, der 5000 Meter tief war.

STANDARD: Zum aktuellen Geschehen: Es geht seit Jahren aufwärts, die Märkte sind weit gelaufen. Heuer war es holpriger, bleiben diese starken Schwankungen?

Thieme: Die Volatilität wird bleiben. Der Markt ist derzeit zwar nicht billig, er ist aber auch nicht überteuert. Wir können jederzeit einen Rückgang wie heuer im Sommer erleben, als die Kurse um 15 Prozent gefallen sind. Das war überfällig. Ich glaube, dass wir nächstes Jahr noch ohne Baisse auskommen und der Dow Jones auf 20.000 Punkte steigen kann. Aber für 2017 oder 2018 glaube ich, dass wir einen Rückgang von 20 oder 30 Prozent erleben werden. Wunder gibt es an der Börse selten.

STANDARD: Wie sieht es in Europa aus?

Thieme: Deutschland ist interessanter als Amerika, weil der Euro billig ist und der Dollar teuer. Der Dax schafft bis Ende April einen neuen Höchststand. Dann kommt die typische Durststrecke von Mai bis Oktober. Die zu ignorieren ist ein großer Fehler. "Sell in May and go away" ist eine gute Strategie.

Heiko Thieme, Portfoliomanager
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STANDARD: Die ist auch statistisch belegt.

Thieme: Wer seit 1950 immer von Mai bis Oktober investiert war, hat seitdem leichte Verluste gemacht. Wer sich immer auf November bis April konzentriert hat, der hat aus 10.000 Dollar bis heute 850.000 Dollar gemacht. Das ist schon ein deutlicher Unterschied. Aber in der Praxis muss man das nicht auf den Tag genau sehen, man sollte ein bisschen Gefühl haben. Die Börse ist nicht mechanisch, sondern ein Organismus. Den Extrempunkt muss man auch gar nicht erwischen, es reicht, in der Nähe zu kaufen oder zu verkaufen.

STANDARD: Welche Branchen bevorzugen Sie? Wer trägt diesen Aufschwung?

Thieme: Getragen wird die Hausse vom Technologiebereich. Aktuell habe ich nur eine Empfehlung, und das ist IBM, weil die Aktie nicht teuer ist. Apple kaufe ich nicht mehr, sondern halte ich nur noch, denn das Unternehmen könnte in den nächsten fünf Jahren in Riesenprobleme kommen.

STANDARD: Probleme welcher Art?

Thieme: Apple wird nicht pleitegehen, aber es wird eine Phase kommen, in der es nicht mehr diese horrenden Wachstumsraten geben wird. Die hohen Gewinnmargen sind auf Dauer nicht haltbar.

STANDARD: Und bis zum selbstfahrenden Apple Car ist es noch weit.

Thieme: Das ist richtig, das dauert noch. Aber wir sind in einer Umbruchphase, in der Eigentum nicht mehr so eine Rolle spielt. Die Jugend ist nicht mehr so eigentumsorientiert, das trifft auf den Immobilienmarkt und den Autorsektor zu. In den nächsten 30 Jahren werden wir massive Umschichtungen erleben. Es ist aber noch zu früh, um darin anlegen zu können, doch das ergibt sich früher oder später.

STANDARD: Bleiben wir bei Autos. Würden Sie derzeit eher klassische Aktien wie Daimler und BMW oder eher Tesla kaufen?

Thieme: Bei Tesla habe ich eine gespaltene Einstellung. Tesla hat das richtige Konzept. Aber der Preis ist zu hoch. Das ist wie bei Amazon: Im Januar empfahl ich die Aktie unter 300 US-Dollar. Das Unternehmen ist toll, aber der jetzige Kurs ist zu hoch.

STANDARD: Gilt das auch für andere Internetaktien, die heuer allesamt sehr gut gelaufen sind?

Thieme: Wir sind grundsätzlich noch am Beginn, das Potenzial und die Technologie des Internets zu verstehen. Es ermöglicht, mit sieben Milliarden Menschen zu Nullkosten zu kommunizieren. Auch Google hat ein tolles Konzept, aber ich fühle mich unwohl, wenn ich auf diesem Mont-Blanc-Niveau einsteige. Das überlasse ich anderen, ich kaufe generell gerne, wenn etwas mindestens 20 Prozent gefallen ist und die Fakten stimmen. Ich habe jetzt Twitter empfohlen. Die kämpfen ums Überleben, aber das ist interessant, weil Twitter entweder übernommen wird oder sich regenerieren wird.

STANDARD: Welche Erwartungen hegen Sie für den ATX?

Thieme: Die 5000er-Marke sieht er erst im nächsten Jahrzehnt wieder. Aber Österreichern würde ich österreichische Aktien auf jeden Fall ans Herz legen. Aber der ATX beinhaltet eine Ostkomponente. Die sah bisher mies aus, aber Russland ist wieder im Kommen.

STANDARD: Welche Titel gefallen Ihnen in Österreich am besten?

Thieme: Ich kaufe nur den Index. Der österreichische Markt ist für mich ein Spezialitätenmarkt, man ist besser bedient, wenn man den Index kauft. Der ist noch nicht ausgereizt, Potenzial ist da. Die Frage ist, ob der ATX im nächsten Jahr ähnlich viel zulegen kann wie in diesem.

STANDARD: Wie stehen Sie zu Gold?

Thieme: Man muss nicht unbedingt Edelmetalle haben. Aber Gold ist schon so weit gefallen, das Restrisiko nach unten sollte nicht mehr als zehn Prozent betragen. Also es kann die 1000-Dollar- Marke unterschreiten, aber nur temporär. Wenn ein Anleger im Edelmetallsektor sein will, dann kann er bis zu zehn Prozent vom Vermögen investieren. Dabei würde ich die Hälfte in die physischen Werte Gold, Silber und Platin legen und den Rest in Minenaktien.

STANDARD: Aber bei physischem Platin zahlt man Umsatzsteuer.

Thieme: Das ist richtig. Die Steuer darauf ist etwas Perverses, aber das kann man nicht ändern. Aber ein zu versteuernder Gewinn ist immer besser als ein unversteuerter Verlust.

(Alexander Hahn, 5.12.2015)