Bild nicht mehr verfügbar.

Oppositionsführer Henrique Capriles kann am Sonntag mit einem Wahlsieg rechnen, doch er bremst ein: "Die Situation ist verfahren, den Karren sollten wir besser gemeinsam aus dem Dreck ziehen."

Foto: AP / Fernando Llano

Drei Jahre nach dem Tod von Staatspräsident Hugo Chávez richten die Wähler am Sonntag über die Erben des sozialistischen Vorreiters in Südamerika. Glaubt man den Umfragen, fällt das Urteil vernichtend aus. Demnach wollen 60 Prozent ihre Stimme bei der Parlamentswahl der bürgerlichen Opposition geben, während die regierende Sozialistische Einheitspartei (PSUV) nur auf rund 35 Prozent kommt.

Der Grund dafür liegt in der Wirtschaftspolitik: Devisen- und Preiskontrollen haben Korruption und Mangelwirtschaft befeuert, Verstaatlichungen die heimische Industrie ruiniert. Von einst 14.000 registrierten Industriebetrieben sind nur noch 7000 übrig; 1,5 Millionen Venezolaner haben ihr Land verlassen. Stromausfälle und Wassermangel prägen den Alltag. Durch den Absturz des Erdölpreises kommen die Verzerrungen mit voller Härte zum Tragen. 2015 wird eine Rezession von sieben bis zehn Prozent erwartet.

Leere Regale, überhöhte Preise

Leere Regale, Schlangestehen und überhöhte Schwarzmarktpreise lassen die Stimmung auch in den einst regierungstreuen Armenvierteln hochkochen. Sie treffen alle gleichermaßen, Arm und Reich – auch die oppositionelle Plattform (MUD). Wirtschaftlich ausgeblutet, muss sie vor allem per Internet für den Wandel werben, denn Papier für Plakate gibt es nicht mehr. Und die meisten Medien des Landes sind inzwischen in der Hand von Regierungsanhängern.

Zu ihrer Kundgebung in Caracas sind ein paar Tausend fahnenschwingende Anhänger gekommen, die abwechselnd die Rap-Musiker und die MUD-Kandidaten bejubeln: ein Ökonom, eine Studentenführerin, die Frau eines inhaftierten Oppositionellen. "Hier bringen sie dich für ein Handy um, weil das Handy mehr wert ist als ein Monatsgehalt", schimpft auf der Bühne die 25-jährige Marialbert Barrientos, die jüngste Kandidatin.

Unerschrockene Kandidatin

Barrientos kommt aus einem Armenviertel, entstammt einer chavistischen Familie und will nun der PSUV deren Hochburg im Viertel Catia entreißen. Dass sie zweimal von Schlägertrupps vertrieben wurde, dass vorige Woche ein Oppositionskandidat auf der Bühne erschossen wurde, dass Präsident Nicolás Maduro erklärte, die PSUV gewinne um jeden Preis: All das schreckt sie keineswegs.

Unten lauscht der 28-jährige Händler Héctor Gutiérrez. "Früher habe ich Hugo Chávez gewählt, aber jetzt habe ich die Augen geöffnet und sehe nur Banditen, Arbeitslosigkeit, Krise und lange Schlangen", sagt er wütend. Die Dekadenz ist rundherum sichtbar: heruntergekommene Gebäude, stillstehende Aufzüge und Rolltreppen, geschlossene Geschäfte oder Ladenregale, die über Meter hinweg mit der gleichen Ware gefüllt sind.

Regierung wie Komapatient

Die PSUV ihrerseits führt einen Wahlkampf, der anmutet wie der letzte Wiederbelebungsversuch eines Komapatienten. Diskreditiert durch die Verstrickung ranghoher Funktionäre in Korruption und Drogenschmuggel macht sie "Imperialismus, Oligarchen und Spekulanten" für die Fehlentwicklungen verantwortlich und schickt den verstorbenen Chávez in Ton und Bild ins Rennen, der noch immer populär ist.

Trotzdem ist der Sieg der Opposition nicht gesichert. Die Regierung habe zahlreiche Fallstricke eingebaut und könne sich damit eine Sitzmehrheit garantieren, erklärt ein Unternehmer, der aus Angst vor Repressalien seinen Namen nicht nennen will. Der Zuschnitt der Wahlkreise, Stimmenkauf oder Einschüchterung gehören dazu.

Geschürte Furcht

Einen Schatten auf den Urnengang wirft auch die Tatsache, dass unabhängige Wahlbeobachter nicht zugelassen wurden. Maduro schürte in den vergangenen Tagen außerdem Furcht vor Unruhen und einem Selbstputsch – was aber von den Streitkräften entkräftet wurde.

Zwar geht es am Sonntag "nur" um das Parlament, trotzdem hätte ein oppositioneller Sieg mehr als bloß Symbolwert. Es wäre das erste Mal in über einem Jahrzehnt, dass eine der drei Gewalten wieder von der Opposition kontrolliert würde. Erstmals wäre wieder eine Debatte im Parlament möglich, erstmals könnte wieder Licht in die vernebelten Staatsfinanzen gebracht werden, eine Amnestie für die politischen Gefangenen wäre möglich.

Fronten bleiben hart

"Es wäre der erste Schritt einer Demokratisierung der Institutionen", sagt Oppositionsführer Henrique Capriles. Illusionen macht er sich freilich nicht: "Die Situation ist verfahren, die PSUV bleibt eine wichtige politische Kraft, und den Karren sollten wir besser gemeinsam aus dem Dreck ziehen."

Doch die Fronten sind verhärtet, weshalb Analysten wie Diego Moya-Ocampo vom Wirtschaftsinformationsdienst IHS Country Risk eher von einer politischen Blockade nach den Wahlen ausgehen, die sich mittelfristig in Unruhen entladen könnte. (Sandra Weiss aus Caracas, 4.12.2015)