Irgendwann müssen auch diese beiden wieder unter die Leute: Almöhi (Bruno Ganz) und Heidi (Anuk Steffen) preschen im tiefen Winter auf dem Schlitten bergab ins Tal.


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Wien – Johanna Spyris (1827-1901) Heidi-Romane zählen zu den erfolgreichsten Werken der deutschsprachigen Literatur überhaupt. Allein in Japan existieren – beflügelt durch die Zeichentrickfassung von Hayao Miyazakis Studio – 123 verschiedene Ausgaben. Nicht nur eine schöne, freie Bergwelt propagieren die ab 1880 erstmals erschienenen Jugendbücher, vor allem berührt die Selbstbehauptung eines Waisenkindes, das seinen Platz im Leben findet.

Alain Gsponers Neuverfilmung mit Bruno Ganz als Almöhi und der zehnjährigen Anuk Steffen in der Titelrolle ist ein aufwendig ausgestatteter Historienfilm, der besonderes Augenmerk auf zeithistorische Details des späten 19. Jahrhunderts legt, vom schmutzigen Dorfleben bis zur affektierten Tischkultur in der Villa Sesemann in Frankfurt, wohin Heidi als Gesellschafterin geschickt wird. In schönen Landschaftsbildern, aber ohne Bombast löst Heidi das ein, was mit "maladie suisse" (dem Heimweh) gemeint sein könnte.

STANDARD: Sie wählen Ihre Rollen sehr gezielt aus. Was gab den Ausschlag, mit Regisseur Alain Gsponer "Heidi" zu machen?

Ganz: Gsponer hat einen sehr guten Film gemacht, das Familiendrama Rose, den habe ich sehr gemocht. Der entscheidende Punkt war aber, dass Heidi nun einmal ein nationaler Mythos ist und ich Schweizer bin, der viel Zeit im Ausland verbracht hat. Heidi zu drehen war wie eine Rückkehr, wenn Sie so wollen: ein patriotischer Akt. Ich wollte einmal teilnehmen an einem richtigen schweizerischen Ding.

STANDARD: Wie haben Sie selbst den Stoff als Kind kennengelernt?

Ganz: Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht mehr. Es ist, als ob man das einatmen würde. Ich kann mich nicht an eine Situation erinnern, in der ich das Buch gelesen oder einen Film gesehen hätte. Heidi kennt man einfach.

STANDARD: Der Almöhi ist bekanntlich keine gesprächige Figur; seine Rolle hat wenig Text. Wie sind Sie damit umgegangen?

Ganz: Ich dachte, man müsse das mit den Augen erzählen. Das ist auch der Situation da oben in den Bergen angemessen. Da herrschen andere Kommunikationsformen als im ersten Bezirk in Wien. Ich habe das nicht nur als Einschränkung gesehen, sondern als Herausforderung, mit wenigen Dingen etwas zu erzählen.

STANDARD: Vermittelt die Körpersprache eines arbeitenden Menschen, der der Öhi ja ist, intuitiv das Richtige?

Ganz: Ja, aber Sie können nicht intuitiv melken oder intuitiv mit der Sense mähen. Das muss alles gelernt werden. Ich mache das gern.

STANDARD: Sie können es offensichtlich sehr gut. Woher?

Ganz: Ich bin als Kind oft auf dem Land gewesen, habe bei unseren Verwandten viele, viele Ferien verbracht. Das waren Bauern. Und da wurden auch Stadtkinder nicht geschont. Dort habe ich diese Sachen gelernt.

STANDARD: Das haben Sie nicht vergessen?

Ganz: Na ja, es sind natürlich einige Jahre vergangen, aber das Melken von Ziegen ist auch einfacher als das Melken von Kühen. Das hat nicht lange gedauert, bis ich das wieder parat hatte.

STANDARD: Die Ziegen habe alle imposante Hörner. War das nicht gefährlich?

Ganz: Da müssten Sie die Kinder fragen. Ich hatte draußen mit den Ziegen weniger zu tun. Ich habe die Ziegen aber beobachtet, wie sie sich verhalten, das ist wirklich beachtlich, das muss man gesehen haben. Das Sprichwort "Jemand klettert wie eine Ziege" gibt es völlig zu Recht. Flink bewegen sie sich mit ihren kleinen Hornhufen über glatte Felsen und reißen mit tierischer Fresssucht die Schösslinge von den Bäumen. Man braucht fünf Leute, um diese 40 Ziegen zusammenzuhalten.

STANDARD: Johanna Spyris Romanvorlagen muten doch altertümlich an, überaus gottgläubig ...

Ganz: Spyri wurde ja von einem Pastor zum Schreiben animiert, Gott wurde nicht infrage gestellt, klar, das war das Fundament.

STANDARD: Dennoch wird "Heidi" immer wieder aufgegriffen. Was ist das Moderne daran?

Ganz: Mit diesem Begriff kann ich nichts anfangen. Ich denke, was einen berührt, ist die Figur dieses Mädchens, das einen Platz sucht in der Welt. Das Kind wird herumgeschubst, wird harsch zurückgewiesen. Aber sie findet dann zusammen mit den Tieren und dem jungen Hirten und in der Freiheit der Alm zu der Erkenntnis, dass sie dort sie selber sein kann. Dann schmilzt auch noch das Herz dieses verstockten alten Mannes. Er wird zur Person, die sie liebt und der auf sie achtet. Sie bekommt eine Heimat.

STANDARD: Sie spielen nur noch selten Theater, waren zuletzt 2012 in "Le Retour" bei den Wiener Festwochen zu Gast. Was müsste geschehen, damit Sie wieder auf der Bühne arbeiten?

Ganz: Also da müssten wir jetzt ein dreistündiges Gespräch führen über die Veränderungen der Situation im deutschsprachigen Theater. Sagen wir so: Das Theater ist mir einfach abhandengekommen. Und durch den Tod von Luc Bondy ist es noch ein Stück weiter weggerutscht. Er hätte vielleicht eine Brücke sein können. (Margarete Affenzeller, 4.12.2015)