Gelernter Zwölftonmusiker, Literaturstaatspreisträger oder Zeichner: Egal welche Sparte der 1930 geborene Gerhard Rühm gerade bespielt, er verfolgt klare Konzepte. Humor hatte da auch meist Platz.


Foto: N. Lackner / UMJ

Graz – Er sei schon ein puristischer Künstler, schmunzelt Gerhard Rühm über sich, als er durch das Grazer Bruseum spaziert. Unüberlegt zieht er keinen Strich über ein Blatt Papier. Ob er Musik – aus welcher der gelernte Zwölftonmusiker ursprünglich kam -, Literatur oder visuelle Kunst schuf, stets verfolgte er fokussiert eine Idee, hatte er ein strenges Konzept.

Totalansicht heißt die gelungene Retrospektive, die Zeichnungen, konkrete Poesie, Fotomontagen und Scherenschnitte Rühms von 1952 bis 2015 zeigt. "Eine Totalansicht über Gerhard Rühm zu machen ist unmöglich", sagt Kurator Roman Grabner. Seinen Einfluss auf die Kunst und Literatur zu überschätzen auch. Man habe sich auf Zeichnungen konzentriert, der Komponist und Schriftsteller Rühm komme am Rand vor. Auch Gemeinschaftsarbeiten mit der 1954 entstandenen Wiener Gruppe fehlen bewusst.

Das Medium der Linie

Die Zeichnung sei "das Medium der Linie und hat daher viel mit der Handschrift zu tun", erklärt der 1930 geborene Künstler. Handschriften erzählten mehr als die Geschichten, die sie transportieren: über Erregung oder Müdigkeit des Schreibers. So wie ein vorgelesener Text mehr über die Stimme erzählt als ein gedruckter.

Dann erzählt Rühm Geschichten zu seinen Zeichnungen: Etwa über die 1970er-Jahre, als man sich in Oswald Wieners Berliner Lokal mit dem für die österreichischen Stammgäste (Bruseums-Namensgeber Günter Brus war einer von ihnen) bezeichnenden Namen "Exil" traf. Mit einer erquicklichen Menge Alkohol im Blut zeichnete Rühm im Bett die Einschlafzeichnungen. Sie waren vollendet, wenn der Bleistift aus der Hand fiel. Für seine automatischen Zeichnungen legte Rühm – und seine Studenten – so lange die Hand aufs Papier, bis sich diese von selbst zu bewegen begann.

"Manchmal muss es auch dunkel sein", sagt Rühm, der das Ergebnis eine "spontane Äußerung des Unterbewusstseins" nennt, ein Interesse für Parapsychologie einräumt, aber Religionen für schädlich hält. "Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod", sagt er und setzt einen Punkt; so scharf wie das kleine Quadrat auf seinen Wurfbildern, auf das er so lange den Bleistift warf, bis er es traf.

In der mit der Schreibmaschine gedichteten Visuellen Poesie taucht das Quadrat wieder auf – und zerbricht am unteren Rand. Ebenso in seiner Mondrian-Bearbeitung mit pornografischen Bildern. Das Ich, das Jetzt und Erotik – die schon in einem Händedruck zu finden sei – waren ihm immer wichtig, so Rühm: "Meine Arbeiten haben keine Handlung, aber ein Thema." Und Humor, möchte man ergänzen.

Das gilt auch für die frühen Ich-Bilder der 1950er-Jahre. Als reiner Text auf einer Zeichnung "noch abwegig war", so Rühm, studierte er die Beziehung zwischen dem handgeschriebenen "Ich" und "Du". Den Bildhauer Fritz Wotruba konnte der Newcomer sofort überzeugen: Er organisierte ihm 1958 eine Ausstellung.

"Wenn ich einmal Farbe verwende, dann nicht, damit das Bild erfreulicher wird", sagt Purist Rühm, "sondern weil es eine Bedeutung hat." Jahre später wurde es bunter: etwa in den Fotomontagen, von denen er eine seinem freiwillig aus dem Leben geschiedenen Freund Konrad Bayer widmete. Oder in den mit Text und Bildern durchbrochenen Notenblättern seiner Visuellen Musik. Eine jüngere Arbeit heißt Ein deutsches Lied. Zwischen die Noten setzte er ein Foto mit Springerstiefeln und Baseballschlägern. Das Jetzt bleibt sein Thema. (Colette M. Schmidt, 3.12.2015)