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Hitler legte "Mein Kampf" in zwei Teilen vor. Das Buch erschien im Eher-Verlag, dem Zentralverlag der NSDAP, und wurde mehr als zwölf Millionen Mal gedruckt.

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Christian Hartmann: ein "Gegenangebot" zu Hitler.

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Es ist eine Vorstellung, die viele Menschen gruselt. Da schlendert man in Deutschland oder Österreich durch eine Buchhandlung, kommt zum Tisch mit den Bestsellern, und dort stapelt sich zwischen Schweden-Krimis und Liebesromanen Hitlers "Mein Kampf". Undenkbar? So ist es – zurzeit.

Denn die Propagandaschrift darf nicht nachgedruckt werden. Da Hitler in München seinen letzten Wohnsitz hatte, fiel auch sein immaterielles Erbe, also das Urheberrecht, nach seinem Tod dem Freistaat Bayern zu. Und der hütete es bis jetzt mit Argusaugen. Doch zu Jahresende erlischt nun dieses Urheberrecht, dann kann das Pamphlet theoretisch jeder nachdrucken und verbreiten. In Frankreich hat der Verlag Fayard die Absicht, von deutschen oder österreichischen Verlagen ist derweil nichts bekannt.

Dennoch wird sofort im Jänner eine Ausgabe vorliegen. Herausgebracht wird sie von Institut für Zeitgeschichte in München (IfZ), und die Absicht ist klar. Es soll gleich eine kritische Edition den Platz besetzen.

"Dieses Relikt des Dritten Reichs ist nun mal in der Welt, und es ist eine zentrale Quelle des Nationalsozialismus. Wir wollen aber das Buch nicht einfach unkommentiert durch die Welt vagabundieren lassen. Im Land der Täter sollte man auch hier zu seiner nationalen Verantwortung stehen", sagt der Historiker Christian Hartmann zum STANDARD.

Er leitete jene Historikergruppe, die sich am IfZ drei Jahre lang Zeile für Zeile Hitlers Buch vornahm, das eigentlich als unlesbar gilt. "Es ist ja das Machwerk eines Gescheiterten", erklärt Hartmann. Hitler hat den ersten Teil 1924 verfasst, als er in Landsberg am Lech in Haft saß, den zweiten dann 1926, nach seiner Entlassung.

Hartmann nennt es "eine schreckliche Lektüre, ein erbärmliches Produkt". Schlecht geschrieben, redundant, ermüdend, gemein und doch alles andere als harmlos: "Ich habe mich, als wir uns so gründlich damit befassten, geschämt, auf wen wir Deutschen da reingefallen sind."

Der Anspruch der Historiker ist kein geringer: Wenn jetzt das Buch, nach dem Erlöschen des Urheberrechts, wieder im Zentrum des öffentlichen Interesses steht, dann wollen sie Hitler und seine kruden Theorien systematisch widerlegen. "Wir zeigen auf, wo er lügt und wie er die Wahrheit zurechtbiegt", sagt Hartmann, der das Buch auch als Beitrag zur "historisch-politischen Aufklärung" versteht – sozusagen ein "Gegenangebot" zu den Halbwahrheiten und Hasstiraden.

Zentralrat der Juden in Sorge

Das geschieht auf mehr als 2000 Seiten. Auf diesen findet sich der Originaltext, aber er ist von insgesamt 3700 Fußnoten umzingelt. So schreibt Hitler etwa, die Politik kümmere sich nicht um die Veteranen des Ersten Weltkrieges. Die Historiker nahmen sich die Akten jener Zeit vor und fanden heraus: "Die Sozialfürsorge für die Veteranen des Ersten Weltkriegs war in der Weimarer Republik vorbildlich." Hingegen hat Hitler später mehr als 5000 traumatisierte Kriegsveteranen vergasen lassen.

Ebenso hetzt Hitler gegen die Kommunisten, die Kadaver ihrer Gegner an Laternen gehängt hätten. "Wir haben das geprüft. Es hat keinen einzigen derartigen Fall gegeben", sagt Hartmann.

Dass "Mein Kampf" 70 Jahre nach Hitlers Tod wieder in Deutschland publiziert wird, löst bei Medien in aller Welt großes Interesse und in Deutschland selbst auch Besorgnis aus. "Der Zentralrat der Juden in Deutschland ist davon überzeugt, dass Hitlers judenverachtende Propagandaschrift verboten bleiben muss", sagt dessen Präsident Josef Schuster. Die Strafverfolgungsbehörden sollten "mit aller Konsequenz" gegen Verbreitung und Verkauf des Buches vorgehen.

Eine kommentierte Ausgabe findet der Zentralrat aber in Ordnung. Auch die Justizminister der deutschen Länder verständigten sich darauf, ab 2016 wissenschaftlich kommentierte Ausgaben nicht verbieten zu lassen, andere jedoch als Volksverhetzung anzuzeigen. Ähnlich ist die Lage in Österreich. Nach Auslaufen des Urheberrechts wird geprüft, ob etwaige Veröffentlichungen gegen das Verbotsgesetz verstoßen.

Es wäre schon peinlich, wenn Hitler in Deutschland durch Nachdruck wieder zum Bestsellerautor würde, findet auch Historiker Hartmann. Aber "gefährlich" sei dessen Schrift heute nicht mehr: "Sie ist 90 Jahre alt und abgestanden. Rechtsradikale brauchen "Mein Kampf" für ihre Ideologie nicht mehr, sie gebrauchen es eher als Symbol, das haben einige Untersuchungen gezeigt."

Das Buch machte den "Führer" reich

Es ist ja nicht so, dass das Buch nicht beschaffbar wäre. Man bekommt es leicht im Antiquariat, im Internet, auf dem Flohmarkt. Der Besitz ist auch nicht strafbar. Hitler selbst machte das Werk zum reichen Mann. Es wurde mehr als zwölf Millionen Mal gedruckt und unters Volk gebracht. Lange hielt sich nach dem Krieg – auch als Schutzbehauptung – die Mär, es habe ohnehin keiner gelesen, weil sich das nun wirklich niemand antun wollte.

"Das stimmt aber nicht, "Mein Kampf" ist kein ungelesenes Buch", sagt der Salzburger Historiker Othmar Plöckinger, der an der kritischen Edition mitarbeitete und zeitgleich eine ergänzende Edition zu Quellen und Dokumenten herausbringt. "Das Buch wurde nicht nur massenhaft verkauft, sondern fand auch großen Widerhall in der Presse." Die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb darüber, die "Frankfurter Zeitung", die Wiener "Neue Freie Presse". Plöckinger hat rund 50 Rezensionen zusammengetragen und zeigt, dass "Mein Kampf" ab 1938 in Bibliotheken sehr stark nachgefragt war. "Und wer sich ein Buch ausleiht, der will es ja wirklich lesen."

Er verweist auch auf Untersuchungen der U.S. Army aus den Jahren 1946/47. Auf die Frage, ob sie "Mein Kampf" wirklich inhaltlich kennen, antworteten zwanzig Prozent der Befragten in Deutschland, sie hätten das Buch "ganz oder teilweise gelesen".

Widerlegt ist auch die immer noch kursierende Fama, man habe ja nicht wissen können, was Hitler alles anrichten würde. "Dass Frankreich der Todfeind sei, Hitler nur gesunde Volksgenossen wollte und wünschte, man hätte während des Ersten Weltkrieges die ,hebräischen Volksverräter' unter Giftgas gehalten – das ist hier alles nachzulesen", sagt Hartmann.

Doch als "Mein Kampf" erschien, sei die Sprache generell gewalttätiger gewesen, viele Menschen hätten Hitlers Werk so eingestuft: "Es ist radikal, zuweilen auch schmuddelig, aber man brauchte es nicht so ernst zu nehmen."

Das IfZ will aus Hitler auf keinen Fall Profit schlagen, daher wird die kritische Edition auch nur zum Selbstkostenpreis von 59 Euro verkauft. 4000 Stück sind für die erste Auflage geplant, Übersetzungen im Gespräch.

Ursprünglich stand der Freistaat Bayern hinter dem Projekt. Doch als Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) in Israel darauf kritisch angesprochen wurde, strich er die Zuschüsse und erklärte: "Ich kann nicht einen NPD-Verbotsantrag stellen, und anschließend geben wir sogar noch unser Staatswappen her für die Verbreitung von 'Mein Kampf'." Wobei das Staatswappen ohnehin nie auf die Edition sollte, diese ist in schlichtem Grau gehalten.

Oliver Rathkolb, emeritierter Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Uni Wien, begrüßt, "dass die Münchener Kollegen mit einer kritischen Edition diesen Mythos zerschlagen wollen". Er sieht aber eine "Leerstelle" und meint: "Wir bräuchten zwischen dem Original, das sich ja auch heute jeder besorgen kann, und dieser umfangreichen wissenschaftlichen Ausgabe eine kommentierte ,Volksausgabe'."

Projektleiter Hartmann allerdings hat jetzt erst einmal "definitiv genug von diesem schrecklichen Menschen". Die "spannende Aufgabe" der vergangenen Jahre hat außerdem einen Wermutstropfen: "Dass mein Name auf alle Zeiten bei Google mit Hitler verbunden ist, ist nicht schön. Aber das ist wohl der Preis, den man als Historiker zu zahlen hat." (Birgit Baumann, 6.12.2015)