Während es immer noch Menschen gibt, die von einer grenzenlosen globalen Welt träumen, werden neue Grenzen geschaffen und Räume umstrukturiert. Das gilt nicht nur für die sichtbaren Barrieren, die Migranten daran hindern sollen, in die EU zu gelangen, sondern auch für jene unsichtbaren, die sich genau dort auftun, wo jahrzehntelang ein Eiserner Vorhang die Bewegungsfreiheit der Europäer beschnitt. Wir leben, heute gut sichtbar, in einer anderen Welt als unsere Nachbarn in Orbáns Ungarn oder im neuen nationalistischen Regime in Polen. Die Klage der "linken" slowakischen Regierung gegen die Verpflichtung, eine gewisse, lächerlich geringe Zahl von Migranten aufzunehmen, ist nicht die erste lautstarke Äußerung aus der Nachbarschaft, sie wird bestimmt nicht die letzte bleiben. Es ist der Umgang mit Grenzen jeder Art, der uns unterscheidet. Bei genauerem Hinsehen trennt uns das, was man etwas pompös als Werte bezeichnet.

Wir sollten nicht selbstgefällig sein angesichts der Tatsache, dass es in fast allen EU-Ländern Politiker gibt, die Fremdenfeindlich-keit schamlos in Stimmung und Stimmen umsetzen, aber es gibt doch, ungeachtet aller Gefahren für die offene, liberale Gesellschaft, einen gravierenden Unterschied. Die sexistischen und rassistischen Gehässigkeiten gegenüber der syrischen Migration, wie sie sich augenscheinlich der "linke" tschechische Präsident Zeman erlauben kann, würden vermutlich hierzulande einen FPÖ-Unterläufel sein Amt kosten. Die abenteuerlichen Verschwörungsgeschichten, die in Ungarn und der Slowakei im Umlauf sind, sind andernorts nicht salonfähig. Der Unterschied zu unserer Situation besteht also darin, dass die xenophoben und autoritären Tendenzen in den postkommunistischen Ländern im Herzen der Gesellschaft verankert sind, bei Regierungspolitikern und auch bei Teilen der akademischen Intelligenz. Sie sind verbunden mit dem Ziel, eine Gesellschaftsordnung zu etablieren, die programmatisch illiberal ist und darauf abzielt, Staat und Gesellschaft abermals dem Regime einer Partei zu unterwerfen und sich der Kontrolle durch freie Medien und unabhängige Gerichte zu entledigen.

Augenscheinlich hat die nicht ganz neue, heute nur plastisch sichtbare Spaltung Europas mit dem zu tun, was sich als Erfahrung in einem gewichtigen Sinne bezeichnen lässt, als eine im Subjekt physisch verankerte Haltung, die sich nicht einfach transferieren lässt. Wir "besitzen" keine eigenen persönlichen und physischen Erfahrungen mit dem Kommunismus, unsere Nachbarn haben keine mit all jenen Prozessen, die die westeuropäischen Länder etwa in der Periode zwischen 1968 und 1989 durchlaufen haben. Mit Debatten wie z. B. jener über die Dignität und die Rechte von Minderheiten, über moder- ne Kunst, die Veränderung der Geschlechterbilder, die kritische Befragung der eigenen politischen Vergangenheit, eine gelassene Haltung gegenüber unterschiedlichen sexuellen Orientierungen. Die meisten der "alten" EU-Länder haben Erfahrungen mit Einwanderung. Insofern nimmt es nicht wunder, dass die xenophoben Pegida-Anhänger in Dresden und nicht in Bochum aufmarschieren. Sie wehren sich, ähnlich wie so manche zentraleuropäische Regierung, nicht nur gegen die Fremden, die angeblich feindselige Mächte nach Europa in Marsch gesetzt haben, sondern auch gegen eine offene, auch dem Fremden gegenüber offene Gesellschaft.

Wenn man unzählige Male beruflich in unseren östlichen und nördlichen Nachbarländern gewesen ist, dann fällt auf, dass die Kultur dort unterschiedliche Zeitebenen hat: eine gegenwärtige, die alle Elemente der globalen Hypermoderne in sich trägt (Mode, Konsum, Musik, Fastfood, neue Medien), und eine ältere, die irgendwo in den 1960ern beheimatet ist und die man an Körpersprache, und an Kommunikationsstrukturen, an Affekten und Mentalitäten ablesen kann. Die Abwehr gegenüber anderen, Nachbarn wie Fremden aus Nahost, wird vielfach durch die Enttäuschung über den geringe(re)n Wohlstand verstärkt. Dazu passt auch eine Kultur der Weinerlichkeit, die sich selbst als Opfer sieht, anstatt möglichst breit die eigene oft schwierige Vergangenheit und ihre Verstrickungen zu diskutieren.

Zwischen der klaustrophoben Struktur der Kleinfamilie und der Sehnsucht, in einem homogenen Raum namens "Nation" zu leben, besteht ein innerer Zusammenhang, ebenso wie zwischen dem Überleben autoritärer kommunistischer Strukturen und der "illiberalen" Demokratie, die auf einen Einparteienstaat zusteuert, in dem die anderen politischen Gruppierungen und Parteien nicht Konkurrenten und Mitbewerber, sondern Feinde sind, die man am besten ein für alle Mal ausschalten muss. Unsere Nachbarländer sind kommunistischer, als sie es vermutlich wahrhaben wollen.

Es ließe sich mit der Betrachtung schließen, wonach es Momente von Kultur gibt, die sich rapide ändern, und solche, die geraume Zeit für sich beanspruchen. Politisch kommt es indes darauf an, dass wir jene zahlreichen Menschen, die mit diesem neoautoritären, postkommunistischen Biedermeier nicht einverstanden sind, in ihrem Engagement ermutigen und uns gegen die xenophobe Politik dort, die nicht zufällig mit Europhobie Hand in Hand geht, zur Wehr setzen. Wir müssen das auch tun, um die eigenen Schreier in Schach zu halten. Die kleinen Autokraten werden aufschreien, sie sind ja so wehleidig, wie sie grob im Umgang mit anderen sind. Gottlob reicht ihr vermeintlich starker Arm nicht sehr weit. Von Manès Sperber stammt der Begriff der Desidentifikation, das ist es, was wir als Gegenmittel zu einer aggressiven Identitätspolitik und den bösen Geistern der Vergangenheit benötigen. (Wolfgang Müller-Funk, 4.12.2015)