Laut Wiens Flüchtlingskoordinator Peter Hacker (52) sind im Budgetvoranschlag 2016 der Stadt zusätzliche Kosten für die Bewältigung der Flüchtlingsbewegungen noch nicht enthalten. "In diesem Bereich werden es dutzende Millionen mehr sein", sagte Hacker. Eine ähnliche werde auch rückwirkend für 2015 schlagend, erklärt Hacker, der seit 2001 auch Geschäftsführer des Fonds Soziales Wien (FSW) ist und davor Drogenkoordinator der Stadt war. Derzeit würden in Wien bis zu 100 Asylanträge pro Tag gestellt, in Spitzenzeiten seien es bis zu 400 gewesen. Tausende Flüchtlinge seien derzeit in einem "juristischen Status, den es nicht gibt". Die Schuld dafür sieht er beim Bund und bei anderen Bundesländern.
STANDARD: Wie viele Flüchtlinge, die der Bund versorgen müsste, werden derzeit von Wien versorgt?
Hacker: Ich kann Ihnen sagen, wie viele Flüchtlinge mehr wir untergebracht haben, die der Bund und andere Länder versorgen müssten: ungefähr 6000.
STANDARD: Wie lange geht das gut?
Hacker: Die Frage ist, wie lange man der Bevölkerung zumuten kann, dass sich andere weniger anstrengen. Ich verlange von Bund und Ländern, die Umsetzung des seit 1. Oktober geltenden Durchgriffsrechts zur Quartierschaffung mit mehr Ernsthaftigkeit zu betreiben.
STANDARD: Wie viele Flüchtlinge sind obdachlos?
Hacker: Wir bemühen uns Tag für Tag, keine Flüchtlinge in der Obdachlosigkeit zu haben. Zuletzt ist es meinen Mitarbeitern mit 20 oder 30 Personen nicht gelungen, die dann am Bahnhof schliefen. Wir haben aber seit September 40 Einrichtungen mit mehr als 9000 Plätze geschaffen, bis Jahresende kommen weitere 2500 dazu.
STANDARD: Wie viele Asylanträge werden in Wien pro Tag gestellt?
Hacker: Wir haben zwischen 50 und 100 Asylanträge am Tag und hatten Spitzen von 400. Es kommen auch viele Leute, die anderswo zum Asylverfahren zugelassen sind, aber dort obdachlos wurden.
STANDARD: Wie läuft die Abwicklung der Asylverfahren?
Hacker: Die Deutschen haben alles, was Verfahren komplizierter macht, gestrichen. Die Regierung hat im Juni per Novelle das Gegenteil gemacht. Seither ist die zuständige Behörde noch mehr überlastet. Es muss rascher entschieden werden. Seit 2014 gibt es das Bundesamt für Ayl und Fremdenwesen, was nichts verbessert hat.
STANDARD: Es soll also auch schneller abgeschoben werden?
Hacker: Faktum ist, dass in Österreich im ersten Halbjahr 2015 1000 Personen abgeschoben wurden. Man sollte nicht so tun, als würde man Tausende abschieben.
STANDARD: Stimmt es, dass es Wochen dauert, bis Verfahren starten?
Hacker: Das Erstgespräch und die Abklärung, ob ein Dublin-Fall vorliegt, sollen seit Juni binnen 48 Stunden erfolgen. In Wien dauert das derzeit drei Monate. Das heißt, es sind mehrere tausend Menschen in einem juristischen Status, den es nicht gibt. Wir haben in Absprache mit der Polizei die Servicekarte erfunden. Wir hätten sonst 6000 Leute in der Stadt, von denen wir nicht wüssten, wer sie sind und wie sie heißen.
STANDARD: Wien wächst laut Prognosen um jährlich 25.000 Menschen. Verkraftet die Stadt weitere große Fluchtbewegungen?
Hacker: Das ist eine Planungsgröße, auf der die Infrastrukturplanung aufgesetzt ist. Voriges Jahr waren es nicht 25.000, sondern 33.000, was niemanden erschütterte. Doch aufgrund dessen, was in den letzten Monaten passiert ist und was noch passieren wird, werden wir die Zahl nach oben setzen müssen.
STANDARD: Das verkraftet Wien?
Hacker: Ja, es ist schaffbar! Von alleine geht es aber sicherlich nicht.
STANDARD: Gibt's eine Obergrenze?
Hacker: Nein. Ginge es um die Frage, ob Wien jedes Jahr 25.000 Flüchtlinge zusätzlich schafft, würde die Geschichte etwas schwieriger. Aber es gibt eine große Zahl an Gemeinden, die seit Jahren überlegen, was sie gegen das Schrumpfen tun können. Meist hilft Wachsen gegen Schrumpfen. Wir haben uns offensiv mit einer Wachstumsstrategie beschäftigt.
STANDARD: Wien ging für den Bund zur Flüchtlingsversorgung in Vorleistung. Wie viel fordert man dafür zurück?
Hacker: Wir haben für den September eine erste Rechnung in Höhe von 10,5 Millionen Euro abgeliefert. Es gibt inzwischen auch keine Diskussion mehr zwischen dem Innenministerium und dem Land über das Tragen der Kosten.
STANDARD: Die Mindestsicherung in Wien wurde im Laufe des Jahres um 75 Millionen Euro auf 544 Millionen aufgestockt. Wie groß ist der Anstieg Notleidender in Wien?
Hacker: Der ist beträchtlich. Alle, die in Grundversorgung sind – das sind in Wien bald 20.000 -, erhalten nach Verfahrensabschluss eine Aufenthaltsgenehmigung oder müssen das Land verlassen. Der Großteil der Menschen, die da bleiben, braucht Unterstützung und muss dann rasch aus der Mindestsicherung herauskommen. Integration muss deshalb am ersten Tag der Grundversorgung beginnen, die Leute müssen Deutsch lernen. Nicht nur auf dem Niveau, dass sie Pizza bestellen können.
STANDARD: Der Fonds Soziales Wien (FSW) hat einen Jahresumsatz von 1,4 Milliarden Euro. Im Voranschlag 2016 gesteht ihm die Stadt 28 Millionen Euro mehr Budget zu. Wofür konkret?
Hacker: Das betrifft den Mehraufwand in den Bereichen Pflege und Behinderung. Wir sind in Gesprächen über eine Adaptierung. Die Entwicklung der Flüchtlingssituation war zum Zeitpunkt der Budgetierung noch nicht abschätzbar. In diesem Bereich werden es dutzende Millionen Euro mehr sein.
STANDARD: Im Budget, das nächste Woche im Gemeinderat beschlossen wird, sind dutzende Millionen, die Sie geltend machen müssen, noch nicht drin?
Hacker: So ist es. Wir werden dem Gemeinderat eine Nachtragsdotation für 2015 vorlegen müssen.
STANDARD: Können Sie die Zahl konkretisieren?
Hacker: Ich bin dafür, erst zu gackern, wenn das Ei gelegt ist.
STANDARD: Finanzstadträtin Renate Brauner hat verkündet, dass Wien 2016 rund 350 Millionen Euro neue Schulden machen wird. Dieser Wert wird also noch steigen?
Hacker: Das ist nicht so sicher. Es gibt ja auch die Zusage des Finanzministers, dass zusätzliche Bundesmittel für die Flüchtlingshilfe kommen. Wir rechnen mit dem Innenministerium ab, das bedeutet nicht zwingend, dass der Schuldenstand der Stadt steigt.
STANDARD: NGOs zufolge sind Notquartiere für Obdachlose schon überfüllt. Gibt es zu wenige?
Hacker: Natürlich kämpfen wir beim FSW bei der Wohnraumschaffung mit der inneren Frage: Flüchtlinge oder Obdachlose? Erst am Mittwoch haben wir aber wieder ein Notquartier für Obdachlose in Betrieb genommen. Von den 600 zusätzlichen Plätzen im Rahmen des Winterpakets sind noch nicht alle in Betrieb. Aber wir wissen, wann wir dazuschalten können. Wenn es draußen friert, fragen wir nicht nach, ob jemand anspruchsberechtigt ist oder nicht.
STANDARD: Eine Frage zum Internationalen Tag des Ehrenamts (5. 12.): Die Flüchtlingshilfe ist stark über Freiwillige organisiert. Wie lange kann das funktionieren?
Hacker: Was im September und Oktober möglich war, ist im Dezember viel weniger möglich und im März 2016 wahrscheinlich gar nicht mehr. Die Kernarbeit kann nicht auf Freiwilligen aufbauen. Das wäre Missbrauch. Es braucht mehr angestelltes und geschultes Personal. Die NGOs haben hunderte Leute aufgenommen, viele aus dem Pool der Freiwilligen. Es war ein positiver Zufall, dass im September und Oktober viele Studenten helfen konnten. Einige Freiwillige haben schon zu viel Zeit investiert. Es gibt nicht zufällig Fachtagungen zum Thema Burnout bei Flüchtlingshelfern. (David Krutzler, Gudrun Springer, 5.12.2015)