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"Kinder aus westlichen Ländern waren häufiger gewillt, einem anderen Kind mehr zu gönnen, als sie selbst bekommen. Das war bei Kindern aus nicht-westlichen Ländern seltener der Fall", sagt der Wirtschaftsforscher Sutter.

Foto: APA / Florian Lechner

STANDARD: In Österreich wird derzeit viel über Werte diskutiert. Sie befassen sich mit Fairness. Gibt es kulturelle und regionale Unterschiede in der Wahrnehmung, was gerecht ist und was nicht?

Sutter: In der Verhaltensökonomie verstehen wir unter Fairness die Frage, wie man einen Kuchen gerecht verteilt. Da können Menschen auch einmal unterschiedlicher Meinung sein, beispielsweise wenn Geschwister Süßigkeiten teilen. Interessant ist aber, dass ganz generell eine Halbe-halbe-Norm fast universell als gerecht empfunden wird.

STANDARD: Was aber, wenn eine absolut faire Aufteilung nicht möglich ist?

Sutter: Da wird es interessant. Wenn man den Kuchen nicht gleich verteilen kann, stellt sich die Frage, inwiefern man gewillt ist, in Kauf zu nehmen, dass der andere mehr bekommt. Hier legen neue Studien nahe, dass es kulturelle Unterschiede gibt.

STANDARD: Und zwar welche?

Sutter: In westlich orientierten Kulturen sind die Menschen eher gewillt, auf Gleichheit zu achten – egal, ob es demjenigen selbst besser geht oder schlechter. Das scheint nicht in allen Kulturen so zu sein. In Ländern wie Indien, Peru oder Mexiko gibt es Evidenz, dass die Leute eher die Denkweise haben: Geht es mir schlecht, ist mir Gleichheit wichtig, geht es mir besser, plötzlich nicht mehr so sehr.

STANDARD: Menschen dort sind also missgünstiger?

Sutter: Da geht es nicht um richtig oder falsch, gut oder böse. Ein besseres Verständnis von Fairness ist vor allem deshalb wichtig, weil wir uns, wenn wir miteinander zu tun haben, einig sein sollten, was eigentlich fair ist. Unterschiedliche Einstellungen verursachen im Zusammenleben schließlich häufig Konflikte. Im ökonomischen Bereich bedeuten Konflikte Effizienzverluste. Man einigt sich nicht und damit ist die Möglichkeit zusammenzuarbeiten dahin.

STANDARD: Europäer können also nicht friktionsfrei mit Menschen aus anderen Teilen dieser Welt zusammenarbeiten, weil sie einen zu stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn haben?

Sutter: Man darf nicht verallgemeinern. In der von mir zitierten Studie, die in "Nature" veröffentlicht wurde, wollte man zeigen, wie sich Fairnessvorstellungen auf der ganzen Welt entwickeln. Das wesentliche Ergebnis ist, dass Menschen im Westen einen anderen Zugang zu diesem Thema haben als die Menschen in manch anderen Teilen der Welt. Kinder aus westlichen Ländern waren beispielsweise häufiger gewillt, einem anderen Kind mehr zu gönnen, als sie selbst bekommen. Das war bei Kindern aus nicht-westlichen Ländern seltener der Fall.

STANDARD: Welche Schlüsse ziehen Sie daraus für die Wirtschaft?

Sutter: Wenn wir eine Gerechtigkeitsvorstellung haben, die miteinbezieht, darauf zu achten, wie es den anderen geht, hilft das, um längerfristige wirtschaftliche Beziehungen aufbauen zu können. In der Wirtschaftswissenschaft nennen wir das gerne Sozialkapital. Wir haben dieselben Normen, wie man miteinander umgehen sollte und sind uns deshalb einig, wie man den Kuchen verteilt. Das ist wirtschaftlich enorm bedeutsam.

STANDARD: Das heißt, wenn in Österreich über Werteschulungen für Flüchtlinge debattiert wird, sollte dort vor allem auch vermittelt werden, was wir unter Gerechtigkeit verstehen?

Sutter: Ja, denn nur so ist es möglich zu verstehen, warum wir in bestimmten Situationen so und nicht anders handeln. Der erste Schritt wäre ein gegenseitiges Verständnis für die Normen des anderen. Reden würde schon einmal helfen, auch wenn wir uns am Ende eingestehen müssten, dass wir nicht notwendigerweise dieselben Vorstellungen haben. (Katharina Mittelstaedt, 5.12.2015)