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"Niemand will Flüchtling sein, keiner wünscht sich als Kind, dass der Präsident durchdreht und alle umbringen will, damit man alles hinter sich lassen und irgendwo als Flüchtling leben kann", sagt der aus Syrien geflohene Muhammad Kasem bei einer Veranstaltung im Rahmen des diesjährigen "Mediengipfels" in Lech.

Foto: APA / Florian Lechner

An der Küste von Griechenland war er sich zum ersten Mal nicht mehr sicher, ob er den nächsten Tag erleben wird. Die letzten paar hundert Meter hatte er schwimmen müssen, es war Winter, er war nass. Wird man in der Nacht aufgegriffen, setzen dich die griechischen Beamten in ein Boot und bringen dich zurück in die Türkei, erfuhr er von anderen Flüchtlingen. Aus Angst versteckte er sich irgendwo im Gestrüpp. Die Kälte ließ ihn halluzinieren. Doch der Morgen kam.

Heute sitzt Muhammad Kasem, 31 Jahre, raspelkurze dunkle Haare, buschige Augenbrauen, weiche Stimme, in einem Anzug im Vorarlberger Lech und referiert über seine Flucht aus Syrien. "Niemand will Flüchtling sein, keiner wünscht sich als Kind, dass der Präsident durchdreht und alle umbringen will, damit man alles hinter sich lassen und irgendwo als Flüchtling leben kann", sagt er.

"Töten oder getötet werden"

Genau das tut er nun aber, und zwar in Tirol. Seit eineinhalb Jahren wohnt der studierte Betriebswirt und anerkannte Asylwerber in Innsbruck. "Es gefällt mir hier, aber ich hatte auch keine andere Möglichkeit. In Damaskus konnte ich mich nur noch zwischen töten oder getötet werden entscheiden. Ich wollte beides nicht."

Der diesjährige "Mediengipfel" stand im Zeichen der "Flüchtlingsproblematik". Bevor Kasem seine Geschichte erzählen konnte, lieferte Manfred Nowak, Leiter des Wiener Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte, die Fakten: Derzeit sind mehr Menschen auf der Flucht als jemals zuvor, die meisten Flüchtlinge stammen aus Syrien, kein westlicher Staat zählt zu den zehn Ländern, die die meisten Geflohenen beherbergen. Jeder dritte Flüchtling lebt in der Türkei, in Pakistan oder im Libanon.

Keine "Flüchtlingskrise"

"Die aktuelle Flüchtlingskrise, wie sie gerne genannt wird, ist keine Krise der Flüchtlinge. Die fliehen vor Krisen. Womit wir es eigentlich zu tun haben, ist eine Krise der Flüchtlingspolitik. Das wäre die korrekte Bezeichnung", sagt Nowak, der auch einige Lösungen parat hat: Man müsse etwa die Möglichkeit schaffen, Asylanträge bei EU-Delegationen in Drittstaaten zu stellen und das sogenannte "Resettlement" ausbauen.

Unter Resettlement versteht man, wenn überforderte Erstzufluchtsländer die Neuansiedelung von Flüchtlingen in einem zur Aufnahme bereiten Drittstaat organisieren, der Schutz und Integration gewährleistet. Geht es nach Nowak, müssten beispielsweise die USA, Kanada und Australien durch solche Vereinbarungen mehr in die Pflicht genommen werden.

"Situation täglich schlimmer"

Europa rät er: "Das Dubliner Übereinkommen sollte man, wie es ist, auflösen." Es schreibt vor, dass jener europäische Staat, in dem ein Flüchtling das erste Mal polizeilich registriert wurde, das Asylverfahren durchzuführen hat. "Das hat zu einer Renationalisierung der Politik beigetragen und führt dazu, dass wir Menschen wie Pakete durch Europa schicken", sagt Nowak. "Dabei brauchen wir Migration, um unseren Kontinent vor einer Überalterung zu bewahren."

Muhammad Kasem hat zu einer österreichischen Verjüngungskur bereits beigetragen: Seine Frau und seine kleine Tochter sind inzwischen nachgezogen, vor einem Monat kam in Innsbruck sein Sohn zur Welt. Kasems Eltern hingegen leben weiterhin in Damaskus. "Wir telefonieren jeden Tag. Die Situation dort wird täglich noch schlimmer." (Katharina Mittelstaedt, 6.12.2015)