In der TTIP-Verhandlungstaktik der EU-Kommission dräut eine machtvolle Finte: die Errichtung eines Investitionsgerichtshofes. Mit einer oberflächlichen Anpassung an rechtsstaatliche Mindeststandards, die tieferliegende Asymmetrien verdeckt, versuchen die Verhandler eine kritische Masse der Parlamentarier für das Abkommen zu gewinnen: ein Schachzug, vor dem ausdrücklich gewarnt sei.

Seit den späten 1950er-Jahren wurde im bilateralen und plurilateralen Wirtschaftsvölkerrecht ein Rechtsschutz der besonderen Art entwickelt: Geschützt wird das Eigentum von internationalen Investoren im Ausland, nicht nur ihr physisches (Fabrik, Büro), auch ihr finanzielles (Portfolio, Finanzanlagen) und geistiges Eigentum (Patente, Marken), und das nicht nur vor direkter, sondern auch vor "indirekter Enteignung" und "unfairer Behandlung".

Menschenrechte versus Eigentum

Das ist zum einen einseitig und unausgewogen, weil es auf derselben Ebene – des Völkerrechts – weder verbindliche Menschenrechts-, Arbeits-, Umwelt-, Steuer- oder Antikartellgesetze für globale Wirtschaftsakteure gibt noch einklagbare Schutzrechte für die von den Aktivitäten dieser Investoren Betroffenen. In der Abwägung, ob es wichtiger ist, zuerst Menschenrechte und die Umwelt verbindlich zu schützen und einklagbar zu machen oder zuerst das Eigentum von Investoren, haben die Regierungen und Parlamente hier ein klares Präjudiz zugunsten von Privateigentum geschaffen.

Die zweite Asymmetrie besteht darin, dass diese Rechte nur ausländischen Investoren zugänglich sind, nicht aber inländischen. Das "Freihandelsrecht" außerhalb der Uno sorgt stets ganz penibel dafür, dass ausländische Wirtschaftsbürger keinesfalls schlechtergestellt werden als inländische. Die umstrittenen Klagerechte schaffen schamlos eine Schlechterstellung von inländischen Wirtschaftsbürgern.

Die dritte Asymmetrieebene ist, dass der Eigentumsschutz auf internationaler Ebene weiter geht als auf nationaler Ebene, indem er auch "indirekte Enteignung" und "unfaire Behandlung" umfasst. Das vertieft die Diskriminierung: Inländische Firmen dürfen nur vor nationalen Gerichten auf direkte Enteignung klagen, internationale Unternehmen zusätzlich vor internationalen Gerichten auf indirekte Enteignung.

TTIP als akzeptabel darstellen

Erst die vierte Asymmetrieebene, das Fehlen rechtsstaatlicher Mindesterfordernisse bei der Ausgestaltung der internationalen Gerichte, ist Gegenstand der aktuellen Diskussion um das TTIP. Der Vorschlag der EU-Kommission setzt auf dieser "seichtesten" Ebene an. Durch das Scheinwerferlicht auf die Oberfläche werden die tieferliegenden Asymmetrien ausgeblendet. Eine alleinige Reform des Klagerechts für Konzerne durch a) die Errichtung eines festen Gerichtshofes, b) die Bestellung ständiger RichterInnen, c) die Öffentlichkeit der Verfahren und d) eine Berufungsinstanz kann nicht als Fortschritt gewertet werden, wenn gleichzeitig neue Rechtsasymmetrien im TTIP verankert werden. Auch kommt ein merkwürdiges Gefühl auf, wenn Applaus dafür erwartet wird, dass Regierungen sich daran erinnern, dass es für Gerichtsverfahren rechtsstaatliche Grundprinzipien gibt. Das Magenweh wird stärker, wenn diese Einsicht als Argument benützt wird, das TTIP mit allen verbleibenden Defekten nun als akzeptabel darzustellen.

Vorrecht der Konzerne

Die meisten Asymmetrien blieben aufrecht: Weder kann der neue Gerichtshof von inländischen Wirtschaftsbürgern angerufen werden noch von den Betroffenen der Investitionen: Das Tribunal bliebe ein Vorrecht der Konzerne. Es wäre dasselbe, als würden feudale Paramilitärs durch eine rechtsstaatliche Polizei ersetzt, doch rufen darf sie nur der Großgrundbesitzer. Alle anderen von Investitionen Betroffenen haben kein Recht, die Polizei zu rufen. Wenn transnationale Konzerne Menschenrechte verletzen (Ermordung von Gewerkschaftern), die Gesundheit schädigen (Bhopal), die Umwelt zerstören (Fracking), die Arbeitsrechte mit den Füßen treten (Sweatshops), ihre Steuerpflicht verletzen oder Gentechnik durchboxen (Monsanto), bleiben die Betroffenen machtlos: Wo kein Recht, da keine Klage!

Falls auf diese Fundamentalasymmetrie in Debatten überhaupt eingegangen wird, kommt das Argument, dass die geschädigten Menschen ja die Möglichkeit hätten, die nationalen Gerichte anzurufen. So viel Doppelmoral ist unübertreffbar: Dieselben, die zusätzliche nichtrechtsstaatskonforme Gerichte für Investoren mit dem Argument durchgesetzt haben, dass die nationalen Gerichte nicht ausreichend seien, lehnen zusätzliche rechtsstaatliche Gerichte für die Investitionsgeschädigten mit dem Argument ab, dass es ja die nationalen Gerichte gäbe.

Alle vier Asymmetrien

Ein Investitionsgerichtshof wäre nur dann diskussionswürdig, wenn alle vier Asymmetrien gemeinsam behoben würden – dann würde sich das Instrument jedoch um 180 Grad gegen die Befürworter wenden und mit hoher Wahrscheinlichkeit leidenschaftlich von ihnen bekämpft werden. Denn wenn auch Staatsbürger klagen und "indirekte Enteignung" oder gar "unfaire Behandlung" geltend machen könnten, dann könnten nicht nur potenziell 50.000 US-Exporteure gegen die EU und ihre Mitgliedstaaten klagen, sondern auch 400 Millionen erwachsene EU-Bürger, die von den Investitionen ebendieser Unternehmen betroffen sind. (Christian Felber, 6.12.2015)