Anna Eger als Estelle

Foto: Patrick Pfeiffer

Linz – Die bezauberndste Neuerfindung aus den Figurenwerkstätten der zeitgenössischen Dramatik stammt aus Frankreich. Niemand wüsste genau zu sagen, wer oder was Estelle (Anna Eger) ist. In der ersten Szene des Stückes Mein Kühlraum sieht man sie als betende Nonne auf dem Boden des Linzer Landestheaters knien.

Von der Mutter Oberin muss sich Estelle eine strenge Einvernahme gefallen lassen. Das Mädchen hat sich in den Orden eingeschlichen. Ob sie denn ganz fest an Jesus glaube, wird die Rätselhafte gefragt. Die Antwort fällt zwar frohgemut aus, aber für katholische Anwerbungszwecke letztlich unbrauchbar. Sie habe sich in das Kloster hineingeschmuggelt, weil sie nicht an Gott glauben könne, flötet Estelle. Vielleicht müsse sie bloß lernen, besser hinzuschauen, um Gott auch wirklich zu erkennen.

Infiltrierende Anwesenheit

Estelle bleibt ihrer Vorgangsweise während zweieinhalb Stunden mit eiserner Konsequenz treu. So lange währt Mein Kühlraum, ein Stück des vielfach preisgekrönten Franzosen Joël Pommerat (52). Für dessen Werk legt der Linzer Schauspielleiter und Regisseur Gerhard Willert bereits seit Ewigkeiten Ehre ein. Seinen neuesten Werbeversuch kann man gar nicht zurückweisen. Estelle, das undurchschaubare Zauberwesen, fährt nämlich fort, die kalte, gewöhnliche, grausame Welt mit ihrer Anwesenheit zu infiltrieren. Dazu bedarf es wenig in Linz.

Ausstatterin Alexandra Pitz hat eine Manege in das Landestheater bauen lassen. In deren Mitte liegt ein einfacher Teppich, auf den in unterschiedlicher Beleuchtungsstärke vier Scheinwerfer herunterglühen. Estelles zweite Lebensstation ist gleich ihre wichtigste. Sie macht sich als Reinigungskraft und Dienstleisterin um die achtköpfige Belegschaft eines Supermarkts verdient. Estelle kann alles, vor allem aber kann man ihr alles folgenlos anhängen. Die Gute schrubbt, saugt und verborgt Unsummen ihres Gehalts. Zur Belohnung wird sie zu Hause von ihrem Gatten körperlich malträtiert.

Spirituelle Erotik des Alltags

Estelle kann aber auch nichts etwas anhaben. In ihren freudlosen Halbschuhen, im rosa Kittel verströmt sie gewiss nur die unverdächtige Erotik einer möglichst sorgenfreien Bewältigung des Alltags. Und dennoch ist da ein Flirren um diese patente Person, dem sich niemand so leicht entziehen kann. Am wenigsten Firmenboss Blocq (Vasilij Sotke), hinter dessen vierschrötiger Gestalt sich ein verquer denkender Menschenfreund verbirgt.

Kurz: Blocq erkrankt zum Tode hin, also überschreibt er sein kleines Firmenimperium ausgerechnet den Supermarktangestellten, die er eben noch erniedrigt und beleidigt hat. Die heimliche Zentralgestalt der Minigenossenschaft aber bildet Estelle. An ihrer gleichsam spirituellen Strahlkraft richten sich die Übrigen auf. Zugleich zieht sie die Aggressionen wie ein Blitzableiter auf sich.

Willert inszeniert die sozialen Binnenspannungen meisterhaft: Blackouts trennen die Szenen voneinander ab und verpflichten das Ensemble zu äußerster Verdichtung und Lakonie. Dazu pluckern aufmunternd die Technominiaturen Wolfgang "Fadi" Dorningers. Pommerat hat mit Estelle eine Figur erfunden, die man künftig einer Jeanne d'Arc an die Seite stellen wird: als heilige Estelle der Kühlräume. Diese wunderbar gespielte Zauberin tummelt sich wahrscheinlich heimlich in Mittsommernächten mit den großen Botho-Strauß-Verführerinnen, zum Beispiel mit Lotte-Kotte aus Groß und Klein. Besuchen sollte man sie schon jetzt, im Advent. (Ronald Pohl, 6.12.2015)