Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: AFP/Charlet

Die kommunistische Zeitung "L’Humanité" und der konservative "Le Figaro" sind sich für ein Mal einig: "Le choc" lautete am Montag ihre Schlagzeile über die ganze Titelseite. Am Vorabend hatte der rechtsradikale Front National (FN) im ersten Durchgang der Regionalwahl mit 28 Prozent ein Spitzenergebnis erzielt; die konservativen Republikaner mussten sich mit 27 Prozent begnügen, die Sozialisten mit 23 Prozent.

Parteichefin Marine Le Pen erzielte im Landesnorden über 40 Prozent der Stimmen, genauso wie ihre Nichte Marion Maréchal-Le Pen an der Côte d'Azur und der Provence. In sechs von 13 Regionen geht der FN mit einem Vorsprung in die Stichwahl am nächsten Sonntag.

Wenn der Schock tief geht, dann paradoxerweise, weil er nicht einmal überraschend kommt: Nach vier anderen Lokal- und Europawahlen etabliert sich der fremdenfeindliche FN wirklich und endgültig als führende Partei eines Landes, das stolz ist auf seine Revolution, Menschenrechte und die "Brüderlichkeit". Gewiss, noch fehlt Le Pen die Königswahl in ihrer Trophäensammlung. Die linke Zeitung "Libération" titelte aber diesbezüglich sehr trocken, wenn nicht defätistisch: "Es nähert sich." Politkommentatoren halten einen Sieg Le Pens bei der Präsidentschaftswahl 2017 nun für möglich.

Keine "blaue Welle"

Wie sehr sich die Dinge in Frankreich geändert haben, erklärte eine FN-Kandidatin an der Côte d'Azur: "Wenn wir früher auf dem Markt Flugblätter verteilten, lehnten die Leute brüsk ab. Vor einem Jahr nahmen sie sie verschämt an. Jetzt verlangten sie sogar danach."

Die beiden französischen Großparteien sind am Boden. Republikaner-Chef Nicolas Sarkozy fuhr zwar arithmetisch einen Wahlerfolg ein. Er überwand das bürgerliche Regionalwahldebakel von 2010 und kann noch in einer Mehrheit der Regionen den Sieg davontragen. Von einer "blauen Welle" – gemäß den Parteifarben der Republikaner – kann aber keine Rede sein. Sarkozy hatte im Voraus getönt, er werde die guten Umfragewerte für den FN als übertrieben entlarven. Jetzt hat er mit der Regionalwahl die letzte Hauptprobe für die Präsidentenwahl gründlich verpatzt. Einer seiner früheren Vertrauen, Eric Woerth, erklärte am Montag, seine Partei habe "keinen offiziellen Chef" mehr. Parteivorsteher Sarkozy darf sich sehr direkt angesprochen fühlen.

Zweiter Wahlgang

Für den zweiten Wahlgang in einer Woche – bei dem Kandidaten mit mehr als zehn Prozent der Stimmen zugelassen sind – gab Sarkozy schon am Sonntagabend die Losung aus, dass seine Partei in allen Regionen im Rennen bleibe. Das verunmöglicht Absprachen mit den Sozialisten, um einen FN-Sieg zu verhindern. Diese harte Linie stieß am Montag parteiintern auf Kritik. "Die Republik bricht zusammen", mahnte Ex-Premier Jean-Pierre Raffarin; deshalb müssten sich konservative Kandidaten zugunsten von Sozialisten zurückziehen, wenn sich dadurch ein FN-Sieg verhindern lasse. Auch die alliierten Zentrumsdemokraten verlangen, dass Sarkozy seine Kandidaten in diesen Fällen zurückzieht.

Der sozialistische Parteichef Jean-Christophe Cambadélis beschloss hingegen nach Rücksprache mit Präsident François Hollande, die eigenen Wahllisten in Nord-, Ost- und Südfrankreich zurückzuziehen. Das soll den Sieg der beiden Le Pens sowie des FN-Vize Florian Philippot verhindern. Am nächsten Sonntag wird es damit in diesen Regionen zu einer Stichwahl zwischen Front National und Republikanern kommen.

Rückzug der Wahllisten

Die sozialistischen Kandidaten hatten dort nicht einmal 20 Prozent Stimmen erzielt. Ihr Verzicht fällt ihnen sehr schwer. Noch härter ist es für die zwei historischen Schwergewichte unter den sozialistischen Landesverbänden mit Sitz in Marseille und Lille: Sie müssen nun wohl oder übel zur Wahl konservativer Hardliner wie Christian Estrosi (Bürgermeister von Nizza) und Xavier Bertrand (Nordregion) aufrufen.

In der Region Ost will sich der Linkskandidat Jean-Pierre Masseret schlicht weigern, dem in Paris angeordneten Rückzug Folge zu leisten. Prominente Bürgermeister in Straßburg und Metz sowie Ex-Minister wie Aurélie Filippetti fordern ihn aber mit Nachdruck auf, das Handtuch zu werfen, damit die Region nicht in die Hände des FN falle.

Beschränkte Kompetenzen

Generell haben die Regionalräte sehr beschränkte Kompetenzen (in den Bereichen Mittelschulen, Verkehr, Berufsbildung und Wirtschaftsförderung). Zuwanderung gehört nicht dazu, sodass ein FN-dominierter Regionalrat einzig die Subventionen für Ausländervereine streichen könnte. Touristisch gesehen wäre der Imageschaden eines FN-Erfolgs für die betreffende Region jedoch beträchtlich.

Marine Le Pen verurteilte die "Manöver" der beiden Großparteien am Montag als "undemokratisch". Den Sozialisten predigte sie, sie begingen mit dem Rückzug in einzelnen Wahlkreisen einen "kollektiven Selbstmord", wie ihn einst die Sonnentemplersekte begangen habe.

Offenes Rennen

Tatsache ist, dass das Rennen in den drei Regionen, in denen sich die Sozialisten zurückziehen, sehr offen ist. Der FN hat dort im ersten Wahlgang bis zu 40 Prozent der Stimmen gemacht; sein Stimmenpotenzial scheint aber damit ausgeschöpft. Die Republikaner, die in diesen umkämpften Regionen im Norden, Süden und Osten nur rund 25 Prozent erhielten, können hingegen auf zahlreiche Linksstimmen zählen.

Es ist deshalb sogar möglich, dass der FN ganz leer ausgeht. Die Lepenisten sehen darin gerne den Beweis für ein "Komplott" der Pariser Eliten gegen sie. In Wahrheit erweist sich der FN schlicht als unfähig, Wahlallianzen einzugehen, wie das die Konservativen mit den Zentristen und die Sozialisten mit den Kommunisten und Grünen vormachen. Letztere erlitten mit rund sieben Prozent eine herbe Niederlage, was seinerseits eine direkte Folge interner Querelen und Richtungskämpfe ist. (Stefan Brändle aus Paris, 7.12.2015)