Im Souterrain des aufgelassenen Praktiker-Markts in Wien-Simmering warten einige hundert Menschen darauf, dass über ihr weiteres Schicksal entschieden wird. Sie haben weiße oder grüne Ausweise, je nachdem, in welchem Verfahren sie gerade sind. Die weniger Glücklichen, die sich noch im Zulassungsverfahren zum Asylverfahren befinden, haben einen grünen, und jene, die bereits im Asylverfahren sind, einen weißen Personalausweis.

Deutsch lernen

Einer der Glücklicheren ist der neunjährige Raimallah.Auto, Apfel, Buch, Birne …", liest er stolz aus seinen Lernunterlagen vor. Die paar Wörter, die in den zwölfseitigen Unterlagen stehen, kennt er schon fast alle auswendig. Oft hapert es noch an der Aussprache, aber Raimallah ist ständig bemüht, jemanden zu finden, der ihm dabei hilft. Er würde gerne in eine Schule gehen, dafür muss er aber noch warten, bis seine Familie in die Grundversorgung aufgenommen ist. Wie lange das dauern wird, weiß keiner.

Die Unterlagen, die Raimallah derzeit verwendet, haben freiwillige Helfer zusammengestellt. Alle paar Tage kommen ein paar Volontäre und lernen mit den Flüchtlingen. "Wir sind doch alle Menschen und müssen uns gegenseitig helfen. Ich komme einmal die Woche für ein paar Stunden her und lerne mit einigen Personen Deutsch oder spiele und male mit den Kindern", sagt Martina, eine freiwillige Helferin aus der Pfarre Kaiserebersdorf.

Im Souterrain des aufgelassenen Praktiker-Markts in Wien-Simmering warten 400 Flüchtlinge auf die die Zulassung zum Asylverfahren.
Foto: sinisa puktalovic

Bei einer Anzahl von 400 Personen im Notquartier 11, wie die Anlage von den Volkshilfe-Mitarbeitern genannt wird, ist es klar, dass nicht alle an die Reihe kommen können, um Deutsch zu lernen. Vorgesehen ist das sowieso erst, wenn sie Asyl erhalten. Einige bemühen sich schon vorher, an ihren Deutschkenntnissen zu arbeiten. So auch der 24-jährige Sakhizadeh aus Afghanistan: "Ich würde sehr gerne einen Deutschkurs besuchen. Selber kann ich mir keinen leisten, ich habe mir aber mit meinen Kollegen ein Farsi-Deutsch-Wörterbuch gekauft, und wir lernen täglich daraus."

"Es muss was weitergehen"

"Es muss was weitergehen," sagt Sakhizadeh . Er nützt die Zeit in dem Notquartier, soweit es geht. In der riesigen offenen Halle ist der Lärmpegel nicht immer geeignet, um sich neuen Wortschatz einzuprägen. Viele Alternativen zum Auswendiglernen hat er aber nicht. Der Alltag in der Unterkunft ist eintönig. Durch geregelte Essenszeiten wird versucht, zumindest ein wenig Alltagsstruktur für die Flüchtlinge zu schaffen.

Euphorie zu helfen war schon größer

Den Rest des Tages verbringen die Menschen mit dem Warten auf einen möglichen Behördenbesuch oder in der Hoffnung, den Aufruf zum Wechseln in ein Grundversorgungsquartier zu erhalten. "Wir versuchen in unseren begrenzten Möglichkeiten, auch Deutschkurse oder Spiele zu organisieren, auch Kontakte zu den Einheimischen herzustellen. Und erfreulicherweise klappt das auch. Aber ich muss zugeben, dass die Euphorie zu helfen in der Bevölkerung schon größer war", sagt Saira Pilaković, Leiterin von Integration und Interkulturarbeit (INKA) bei der Volkshilfe Wien.

Bevor das Wintersemester an den Universitäten begann, seien noch viele Studenten vorbeigekommen und hätten sich mit den Flüchtlingen beschäftigt, sagt Pilaković. Auch ganze Familien seien anfänglich zum Unterstützen gekommen. Derzeit trifft man nur vereinzelt Personen, die zum Unterhalten oder Spielen mit den Flüchtlingen da sind.

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Familien zuerst

Die Zeit in dem Quartier geht nur langsam vorbei. Einige haben das Glück, schneller einen Platz in einem Grundversorgungsquartier zu erhalten, andere sitzen länger hier fest. "Wir schauen, dass die Familien zuerst einen Platz im Grundversorgungsquartier erhalten", sagt Pilaković. "Täglich verlassen uns Personen, und täglich kommen neue hinzu. Manche können schon nach wenigen Tagen das Quartier verlassen, manche sind aber auch schon über 40 Tage hier."

Josofi ist einer von denen, die schon mehr als 40 Tagen hier sind. Er kommt aus Afghanistan und besitzt eine grüne Karte. Seine Hoffnung ist, bald zum Asylverfahren zugelassen zu werden. Viel größere Sorgen bereitet ihm aber derzeit der Gesundheitszustand seiner Mutter: "Meine Mutter ist derzeit in einem Krankenhaus im dritten Bezirk. Sie ist zuckerkrank, und ihr geht es nicht gut. Ich fahre sie täglich besuchen. Ich wünsche mir, dass es ihr bald wieder besser geht und wir dieses Quartier verlassen können."

Im Notquartier steckt das Wort Not

Den Wunsch, das Quartier zu verlassen, haben alle hier. Je früher, desto besser. "In Wien gibt es zu wenige Grundversorgungsquartiere, deswegen haben wir auch Notquartiere aufstellen müssen, sie sind ein Zwischending zwischen Notschlafstellen und Grundversorgungsquartieren. Wir können die Personen, die hier auf einen Platz im Grundversorgungsquartier warten, nur mit dem Nötigsten versorgen", erklärt Pilaković. Dazu gehören neben einem Bett und Essen auch rudimentäre Gesundheitschecks und Informationen. Alles andere ist Luxus.

Luxus Privatsphäre

Zum Luxus zählt auch die Privatsphäre. Und so haben die Bewohner des Notquartiers 11 begonnen, Zelte zu organisieren. Die, die keine Zelte ergattern konnten, haben mit Kartons kleine Verschlage gebaut und andere die Betten zu Wänden umfunktioniert. Sie schlafen lieber auf dem Boden, als auf ein wenig Privatsphäre zu verzichten.

Sprache als Hindernis

Auf die Bedürfnisse einzelner Flüchtlinge können die Betreuer hier auch aufgrund der sprachlichen Barrieren nur teilweise eingehen. Selten ist jemand da, der Arabisch, Farsi oder eine andere Fremdsprache versteht, die die Bewohner des Notquartiers sprechen, und sich mit ihnen austauschen kann. Manchmal übernimmt Hassmail Zainullah die Rolle des Dolmetschers. Der gebürtige Afghane ist seit 2009 in Österreich und arbeitet seit einem halben Jahr als Reinigungskraft bei der Volkshilfe Wien.

Wegen seiner Farsi-Kenntnisse hilft er zusätzlich beim Übersetzen. Ihm erzählen die Bewohner ihre Beschwerden und ihre Anliegen. "Es gibt hier einige Personen, die schwer krank sind, manche haben Herzprobleme, manche die Zuckerkrankheit. Erst gestern wurde eine Person mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht. Da es jetzt draußen immer kälter wird, sind manche auch verkühlt, und dann kommen sie zu mir und verlangen nach Medizin", erzählt Zainullah.

Keine Ruhr im Notquartier 11

Die Gerüchte, die beim ORF-"Bürgerforum" im Publikum erhoben wurden, seien dennoch falsch, sagt Pilaković: "Wir haben hier auch kranke Personen, um die wir uns, so gut es geht, kümmern. Aber wir haben hier keine Ruhr gehabt und auch keinen anderen Virus, wie das manche behauptetet haben. Die gesundheitliche Situation im Quartier ist unter Kontrolle, wir haben erfreulicherweise nicht einmal Grippe."

Foto: Sinisa Puktalovic

Refugess go(t) (a new) home

Wieso solche Gerüchte kursieren, kann sich die Volkshilfe-Mitarbeiterin nicht erklären. Auch nicht die Hass-Mails und -Briefe, die an die Volkshilfe Wien geschickt werden. In Wien-Simmering wird schon lange nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand gegen Flüchtlinge gehetzt. Man kann es auf der Straße, bei den Weihnachtsmarktständen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln hören. Die Betriebe aus Simmering, die in großer Zahl den Flüchtlingen helfen, machen das alle anonym; zu groß ist die Gefahr, Kunden zu verlieren, die Flüchtlingen abgeneigt sind, erzählt Pilaković.

Manche tun aber noch immer auf feige Art ihren Unmut über Flüchtlinge kund. So wurde bereits in der ersten Nacht, als das mittlerweile aufgelassene Notquartier in der Kimmerlgasse Flüchtlingen eine Notunterkunft bot, "Refugees go home" auf die gegenüberliegende Wand geschrieben. "Das stand dann hier ein paar Tage lang so, aber dann haben andere einige Buchstaben hinzugefügt, und daraus wurde ‚Refugees got a new home‘", sagt Pilaković. Ihrer Meinung nach überwiegen die positiven Reaktionen in der Bevölkerung sowieso, die Augen vor den Aktionen der "Hetzer" solle man aber nicht verschließen.

Das Ende des Notquartiers 11

"Würden alle Gemeinden ihre Quoten erfüllen, wären Notquartiere wie das in Simmering nicht notwendig," sagt die freiwillige Helferin Martina. Solange das aber nicht der Fall ist, wird es weiterhin Notquartiere geben müssen. Das Notquartier 11 wird dennoch am Ende des Jahres aufgelassen. "Das war uns schon von Anfang an klar", sagt ein Mitarbeiter der Volkshilfe Wien. "Es gibt einen Nachmieter für dieses Objekt, und der hat einen Vertrag ab dem 1. Jänner 2016." Nachsatz: "Wir hoffen, dass wir bis Ende des Jahres für alle Flüchtlinge einen Platz in einem Grundversorgungsquartier finden können." (Siniša Puktalović, 8.12.2015)