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Die Stichwahlen am Sonntag werden zeigen, wie viel politische Entscheidungsmacht Marine Le Pen in Zukunft haben wird.

Foto: ap / AFP / DENIS CHARLET

Die Stichwahlen am kommenden Sonntag stehen noch aus, dennoch wird in den französischen Medien bereits von einem "choc" gesprochen: Der rechtsgerichtete Front National von Marine Le Pen hat im ersten Wahlgang 28 Prozent der Stimmen errungen. Die Republikaner unter Ex-Präsident Nicolas Sarkozy kamen auf etwa 26,9 Prozent und die die Sozialisten unter François Hollande gingen mit 23,3 Prozent als Verlierer der Abstimmung hervor.

Für die Stichwahl wird entscheidend sein, ob in jenen Regionen, in denen sich die Sozialisten aus dem zweiten Wahlgang zurückgezogen haben, die linken Stimmen auf die Republikaner fallen. Auch das Problem des Front National, Koalitionspartner zu finden, könnte sie am Regieren hindern.

User fragen, die Redaktion antwortet

Stefan Brändle, Frankreich-Korrespondent des STANDARD, beantwortet hier die Fragen der Userinnen und User zu den Hintergründen und Konsequenzen der Regionalwahlen in Frankreich:

Postingname2014 möchte wissen, ob der Front National nun als rechtspopulistische oder rechtsradikale Partei einzuordnen ist:

Stefan Brändle: Es gibt keine eindeutige Antwort auf diese wichtige Frage. Marine Le Pen hat von allem ein wenig. Radikal ist sie, weil sie mit dem EU-System (Euro) brechen, wenn nicht aufräumen will; populistisch ist sie, weil sie mit den einfachsten Volksinstinkten spielt ("Immigranten erhalten mehr Sozialhilfe als ein französischer Arbeitsloser") und die Schuld für das Übel systematisch bei den anderen (Europa, Migranten) sucht; extremistisch ist sie, wenn sie allen Ernstes behauptet, Konservative und Sozialisten hätten das gleiche Programm; weil sie an Themen (wie Todesstrafe) rührt, die an einem Konsens der Nation/Republik (nicht der Individuen) rütteln, und weil sie den offenen Rassismus vieler FN-Anhänger durchlässt. Das rechtfertigt nach meiner Einschätzung den Begriff "rechtsextrem".

Aber ist er auch am zutreffendsten? Heute vielleicht weniger als noch vor fünf Jahren. Das Attribut "rechtsextrem" war sicher unter Jean-Marie Le Pen angebracht. Er siedelte sich selber außerhalb des Systems an und rechnete gar nie ernsthaft mit einer Wahl; lieber provozierte er mit seinen antisemitischen und rassistischen Sprüchen. Bei Marine Le Pen liegen die Dinge nicht so einfach. Sie gibt sich gemäßigter, auch sozialer – und sie ist nicht auf den Mund gefallen. Meines Erachtens denkt sie dasselbe wie ihr Vater; aber sie hat das Recht, für das genommen zu werden, was sie sagt, nicht dafür, was sie denken mag.

Verdient sie deshalb das Attribut "radikal" nicht? Wenn man "radikal" als undemokratisch, faschistoid versteht, wie das offenbar ein User tut, ist Marine Le Pen nicht radikal: Sie situiert sich klar innerhalb des demokratischen Systems, sie bezeichnet ihre Partei sogar als "republikanisch". Das zweifellos nicht aus Überzeugung – aber wie gesagt, es gilt, was sie sagt oder schreibt, sei das öffentlich oder privat. Die FN-Chefin ist nicht nur Überzeugungstäterin, sondern auch Opportunistin; will gewählt werden und wirklich als Präsidentin in den Elysée-Palast einziehen.

Übrigens lehnt Marine Le Pen die Bezeichnung "rechts" für ihre Partei ab. Und anders als ihr wirtschaftsliberaler Vater vertritt sie sogar linke Positionen: Sie setzt sich für die einfachen Leute ein und wollte im letzten Präsidentschaftswahlkampf alle kleinen Einkommen um 200 Euro erhöhen; sie ist gegen die "ultraliberale", "bankenhörige" EU.

Alles in allem wäre vielleicht die Bezeichnung "national-sozial" für den FN angebracht. Wenn dieser Terminus nicht schon besetzt wäre ...

Corvus albus interessiert sich für die Modalitäten des französischen Wahlsystems:

Stefan Brändle: Generell haben die französischen Regionalräte viel geringere Kompetenzen als die Bundesländer in Deutschland und Österreich. Das aus zwei einfachen Gründen: Im alles andere als föderalen Frankreich behält der Zentralstaat die wichtigsten Kompetenzen für sich. Und: In Frankreich muss sich die Region die ohnehin geringen Zuständigkeiten auch noch mit den Departementen teilen, der nächstkleineren Verwaltungseinheit.

Die Region kümmert sich in Frankreich um einen Teil der Mittelschulen (lycées), Berufslehre, öffentlichen Verkehr und Wirtschaftsförderung. Ihre Haupteinnahmequelle, die taxe professionnelle (die gegenüber Unternehmen erhoben wurde), ist vom Staat kürzlich und ohne Rücksprache zusammengestrichen worden. Im Bereich der lycées ist der Regionalrat auch nur für deren Bau zuständig, nicht für das Lehrprogramm. Dieses bleibt bien-sûr unter zentraler (staatlicher) Kontrolle.

Eher kurios wirkt für uns der Umstand, dass der Vorsteher des Regionalrates sowohl legislative als auch exekutive Funktionen wahrnimmt: Er leitet den parlamentarischen Rat (den österreichischen Landtagen entsprechend) und die regionale "Regierung". Die Gewaltentrennung ist da fern. Dieses System herrscht in Frankreich auch auf Gemeindeebene vor, wo der Bürgermeister auch den Munizipalrat leitet.

Die Anschläge vom 13. November spielen eine Rolle in der Frage von AlinaLuca:

Stefan Brändle: Gute Frage. Ich habe versucht, sie in meinem Onlinetext von Montag zu beantworten:

Man es auch so sagen: Mir scheint, dass den Franzosen am Sonntag erstmals wirklich bewusst geworden ist, dass ihr schönes Land in den Griff einer unschönen Partei gerät. Die Betonung liegt auf "wirklich". Bisher glaubten die Franzosen das selbst nicht recht; die meisten dachten, dass das Schreckgespenst Le Pen nicht mehr als ein Mittel sei, gegen die herrschenden Verhältnisse zu protestieren, seinen Frust abzureagieren oder die verachtete Politikerkaste auf Trab zu bringen.

Wenn Marine oder Marion Le Pen nun gute Chancen haben, die Leitung einer Region mit Millionen von Einwohnern anzutreten, ändern sich die Dinge abrupt. Man muss sich das vorstellen: Eine Partei, die wie ein Aussätziger gemieden und mit einem politischen "cordon sanitaire" (Isolationszone, Sperrgürtel) ausgegrenzt worden ist, könnte touristisch bekannte Regionen wie Elsass, Champagne, Provence oder Côte d’Azur regieren. Daher "le choc"!

User Getz hat ein ganzes Fragenpaket gepostet:

Stefan Brändle: Die "ganz Linken", wie Sie schreiben, haben in Frankreich – wie die Grünen, mit denen sie sich zum Teil zusammenspannten – eine Niederlage erlitten. Nach mehr als sechs Prozent bei den Regionalwahlen 2010 hat die "Linksfront" (Front de gauche) aus Kommunisten und der Linkspartei von Jean-Luc Mélenchon (der französichen Ausgabe von Oskar Lafontaine) jetzt nur vier Prozent der Stimmen erzielt. Kommunistenchef Pierre Laurent führt das auf die Stimmung nach den Attentaten von Paris zurück, die rechte Sicherheitsparteien begünstigten, nicht aber die Linksaußengruppierungen. Der Niedergang der einstigen Massenpartei der französischen Kommunisten hat allerdings schon etwas früher begonnen ...

Stefan Brändle: Nein, eher das Umgekehrte dürfte der Fall sein: Unter dem Druck des Front National haben es linke Inhalte schwerer denn je. Selbst der Sozialist Hollande hat heute eher eine rechte Agenda (Wirtschaftsliberalisierung, Militäreinsätze). Unter dem Einfluss der Attentate und des FN ist momentan auch der linke Flügel der Parti Socialiste kaum mehr hörbar.

Stefan Brändle: FN-Wähler kommen vor allem aus dem Norden und Osten (Industriewüsten) sowie Süden (Rentner, Algerienheimkehrer) des Landes. Der Westen an der Atlantikküste, von Biarritz über Bordeaux und das Loiretal bis in die Bretagne, ist viel weniger betroffen. Soziologisch sind FN-Wähler – tendenziell – eher Männer als Frauen, eher Arbeiter als Akademiker, eher Bauern als Beamte, eher Handwerker als Manager, eher Arbeitslose als Berufsintegrierte – und neuerdings wohl fast mehr Jugendliche als Rentner. Bei 30 Prozent Stimmen sind aber längst alle Bevölkerungsgruppen vertreten. Früher waren vor allem verarmte Vorstadtgebiete mit hohem Immigrationsanteil FN-Bastionen. Heute sind es auch sogenannte "periurbane" Zonen, das heißt die Randzonen der Großstädte. Mehr und mehr auch ländliche Gebiete mit einer starken Abwanderung und hoher Arbeitslosigkeit, wo kaum Immigranten leben.

Stefan Brändle: Natürlich hat Jean-Marie seine Tochter Marine gefördert. Aber ohne ihr eigenes rhetorisches Talent (Stichwort Großmaul) hätte sie es nie ins Zentrum der französischen Politik geschafft. Auch ihre Nichte Marion erhielt von ihrem Großvater zweifellos Anschubhilfe; aber auch sie muss – und wird – sich nun selber durchschlagen. Wenn man bedenkt, dass sie erst 25 ist ... und dass Frankreich also womöglich noch ein halbes Jahrhundert lang mit ihr zu tun haben könnte.

User Huberin1 sieht verblüffenden Parallelen zwischen der Fiktion des Houellebeque-Romans "Unterwerfung" und der Wirklichkeit, wenn er schreibt:

Stefan Brändle: Und genau dort liegt der Unterschied zwischen Houellebecqs Roman und der französischen Realität: In Frankreich gibt es keine gemäßigte Islampartei, und eine solche ist am politischen Horizont Frankreichs auch nicht in Sicht. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen versuchten einige Moslems zwar, eine Partei namens UMDF (Union der muslimischen französischen Demokraten) zu lancieren. Das scheiterte aber kläglich, wobei die meisten Franzosen davon nicht einmal etwas gemerkt haben; und die Partei zog sich bald zurück.

Bezeichnenderweise schaffen es Politiker muslimischen Glaubens in Frankreich kaum je in die erste Gilde der nationalen Politik. Es sei denn, sie wurden (wie zum Beispiel Rachida Dati unter Nicolas Sarkozy) sehr kalkuliert gefördert, um bei Bedarf wieder abserviert werden zu können. Houellebecqs Bücher bleiben deshalb Fiktion. Exzellente Fiktion, gewiss, aber beruhend auf seinen eigenen Phantasien und Ängsten. Mir macht sein Szenario keine Angst; ich musste sogar schmunzeln, wie schlau er den Plot aufgezogen hat.

Das Buch lenkt meiner Einschätzung nach nur ab von einer echten, sehr realen Bedrohung Frankreichs: Sie besteht in Form all jener Möchtegern-Jihadisten und potenziellen Terroristen, die nach ihrer Rückkehr aus Syrien mit der "Kreuzzugs-" und "Kolonialmacht" Frankreichs abrechnen wollen. DAS ist keine Houellebecq'sche Fiktion. (Stefan Brändle, ugc, 9.12.2015)