Víctor Álvarez ist Wirtschaftswissenschafter und war von 2005 bis 2006 Industrieminister unter Präsident Hugo Chávez.

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Anhänger der Opposition feiern in den Straßen von Caracas.

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STANDARD: Ist der venezolanische Erdölsozialismus gescheitert?

Álvarez: Was gescheitert ist, ist ein Modell, das ausschließlich auf die Umverteilung von Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft setzt und das sich in Venezuela seit der Entdeckung des Erdöls etabliert hat. Also lange bevor Hugo Chávez an die Macht kam. Diese Regierung hat die gleichen Fehler gemacht wie die Vorgängerregierungen und hat daher die gleichen Probleme. Nur in einem viel größeren Ausmaß.

STANDARD: Was sind die eklatantesten Fehler der Wirtschaftspolitik und wie wären sie zu beheben?

Álvarez: Das Schlimmste sind die Wechselkursverzerrungen. Eine Differenz vom bis zu 150-Fachen zwischen dem offiziellen und dem Schwarzmarkt-Wechselkurs weckt den Ehrgeiz aller Spekulanten, den Dollar billig einzukaufen und teuer zu verkaufen. Diese Verzerrung hat außerdem zu einem Haushaltdefizit geführt. Denn die Regierung zwingt den wichtigsten Devisenbringer, die staatliche Ölfirma PDVSA, dazu, ihre Dollars billig zum offiziellen Kurs von 6,30 abzugeben. Deshalb verschuldet sich PDVSA bei der Zentralbank, was in normalen Ländern rechtlich gar nicht geht. PDVSA steht bei der Zentralbank mit 900 Milliarden US-Dollar in der Kreide. Das sind zwölf Prozent des gesamten Haushaltsdefizits. Gelöst wird das Dilemma, indem neues Geld gedruckt wird, was zu einer Inflation von 200 Prozent geführt hat. Würde man den offiziellen und den Schwarzmarktkurs angleichen, wäre schon der größte Teil des Problems gelöst. Ein weiterer Schritt wäre, Preiskontrollen für Dinge des täglichen Bedarfs aufzuheben, um die Güterknappheit und die Spekulation zu bekämpfen. Dann muss der Benzinpreis angehoben werden. Das subventionierte Benzin, das weniger als einen Cent pro Liter kostet, belastet den Staatshaushalt und heizt den Schmuggel ins Ausland an.

STANDARD: Es gab immer wieder Stimmen auch innerhalb der Regierung, die das vorgeschlagen haben. Wieso ist nichts passiert?

Álvarez: Die Regierung ist gefangen in ihrer Ideologie und berauscht von den Petrodollars. Sie hält Korrekturen für unpopulär, und weil hier immer Wahlen sind, passiert nichts aus Angst vor politischen Konsequenzen. Und dann profitiert ein Teil der korrupten Parteielite von diesen Verwerfungen. Dutzende von Militärs und Funktionären sind wegen Schmuggels inhaftiert. Die Spekulationsgewinne übertreffen sogar die Gewinne aus dem Drogengeschäft. Außerdem gibt es in der Regierung sozialistische Dinosaurier, die Wettbewerb und Markt für eine teuflische Erfindung des Kapitalismus halten und deshalb private Initiativen gängeln. So wurde der Unternehmergeist erstickt. Als die Revolution anfing, gab es 14.000 Firmen in Venezuela, heute sind es noch 7000.

STANDARD: Wie kann das die Opposition aus dem Parlament heraus korrigieren?

Álvarez: Schwer zu sagen, denn die Opposition ist ein Mischmasch vieler verschiedener Kräfte. Die konservativsten darunter werden vermutlich auf ein Abberufungsreferendum drängen, was aber zur Folge hätte, dass das Land weiterhin im politischen Grabenkampf gelähmt bleibt. Die moderaten Kräfte haben kein Interesse daran, die Suppe jetzt auszulöffeln und die harten Anpassungsmaßnahmen vorzunehmen, die die Regierung vorher versäumt hat. Denn das würde zu Instabilität führen und ihre Chancen auf die Präsidentschaft schmälern. Ihnen wäre es lieber, wenn Präsident Nicolás Maduro die Anpassungen vornähme. Wir brauchten jetzt eigentlich eine Regierung der Nationalen Einheit, die nach und nach den gesamten Staatsapparat demokratisiert und die größten wirtschaftlichen Verzerrungen schrittweise korrigiert.

STANDARD: Wird die Regierung das akzeptieren?

Álvarez: Ich denke ja, denn wenn Maduro bis 2019 im Amt bleiben will, wird ihm nichts anderes übrig bleiben. Die Regierung kann nicht mehr ohne die Opposition und ohne die Privatwirtschaft regieren. Und auch die Opposition muss kapieren, dass ein wichtiger Teil ihrer Wählerschaft nicht Maduro absetzen will, sondern lediglich die Fehlentwicklungen korrigieren möchte. (Sandra Weiss, 9.12.2015)