Paavo Järvi als Anwalt orchestraler Genauigkeit.

Foto: Julia Baier

Wien – Der Beethoven-Zyklus vor einigen Jahren hatte eingeschlagen wie ein Meteorit: So neuartig, frisch, dramatisch, dabei durch und durch stimmig und rhetorisch absolut überzeugend hätte man sich seine Symphonien bis dahin kaum ausmalen können. Nun wenden sich die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen und ihr Chefdirigent Paavo Järvi nach Schumann dem gewichtigsten deutschen Symphoniker nach Beethoven zu.

Mit sämtlichen Symphonien von Johannes Brahms sind sie derzeit auf Tournee und machten auch Station im Wiener Konzerthaus. Derart groß wie beim Wiener Klassiker wirken die Unterschiede zu gängigen Interpretationen nicht, dennoch sind sie grundlegend: Zunächst einmal gelangt Järvi zu einer Genauigkeit in der Umsetzung des Notentextes, vor allem in der Dynamik, Phrasierung und Artikulation, von der manche Kollegen am Pult von Orchestern mit weit klingenderen Namen nicht einmal träumen können, weil sie gar nicht auf die Idee kommen, dies alles zu fordern.

Transparenz statt Pathosnebel

Solche Akribie wäre vergeblich, wenn nicht das klingende Ergebnis so schlüssig geraten würde, wie es hier gelingt – auch wenn man sich von einer Reihe von Hörgewohnheiten verabschieden muss. Das beginnt schon bei der verhältnismäßig kleinen Besetzung, kombiniert mit einem Hang zur Transparenz, der fernab eines nebeligen Pathos sämtliche Linien des Orchestersatzes wichtig nimmt und reichste motivische Bezüge zutage fördert.

Dabei kann der Klang durchaus massiv werden, etwa am Beginn der Ersten, wo die pulsierenden Paukenrepetitionen genauso wuchtig daherkommen, wie es den Kontrabässen ausdrücklich vorgeschrieben ist ("pesante"): Das prägt sich derart ein, dass sowohl die Bezugnahmen auf die Repetitionen im anschließenden Abschnitt bei den Streichern als auch ein Rahmen bis zum Ende des Finales klar wird. Im Verdeutlichen solcher struktureller Bezüge ist Järvi schlichtweg genial.

Gewichtig leichtfüßig

Insgesamt klingt dieser Brahms wesentlich leichtfüßiger als gewohnt, dabei aber um nichts leichtgewichtiger, sondern eher im Gegenteil. Alles ist fein strukturiert: Schon in den ersten Takten der Dritten wird klar, dass es sich hier um eine Reihe verschiedener Artikulationsweisen handelt und dass diese alle einen Sinn ergeben, vor allem das meist sträflich vernachlässigte Portato, also Töne, die durch einen Bogen verbunden, aber doch abgesetzt zu spielen sind. Alles lebt dadurch in diesem Klangkörper, auch durch frisch und frei (und daneben allesamt fabelhaft) musizierende Instrumentalisten, etwa den Klarinettisten, der hier – am Beginn der Dritten – eine kleine Figur aufblühen lässt, als wäre sie das Wichtigste auf der Welt.

Und so wundersam ging es in allen Symphonien weiter: besonders auch dort, wo das Leise tatsächlich leise sein durfte, nämlich in geradezu magischer Weise nahe am Nichts. Nur selten schien die Kontrolle gefährdet, etwa im nicht restlos synchronen Kopfsatz der Vierten.

Und noch seltener tat Järvi des Guten zu viel: etwa bei einem der zugegebenen Ungarischen Tänze, der Nr. 6, wo er die Farben der synkopischen Begleitakkorde etwas gar überkandidelt zutage förderte. Aber selbst das machte mehr Sinn als das verbreitete gedankenlose Drauflosspielen. (Daniel Ender, 8.12.2015)