"Alles in Ordnung! Heute keine Explosionen!", ruft der Verkäufer am Markt des Brüsseler Stadtteils Molenbeek den Menschen sichtlich amüsiert zu. In dem als Islamistenhochburg verschrienen Bezirk nimmt man die Bedrohung durch den Terror eher mit Humor. Und das, obwohl in der belgischen Hauptstadt immer noch die zweithöchste Terrorwarnstufe drei gilt. An zahlreichen Orten Brüssels patrouillieren bewaffnete Soldaten, nicht aber in Molenbeek. Dort findet an diesem kalten Vormittag ein großer Markt statt. Menschentrauben drängen sich zwischen den Ständen, die von frischem Obst und Gemüse bis zu Lederstiefeln alles anbieten. Von zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen ist nichts zu bemerken.

Der Markt auf dem Hauptplatz in Molenbeek.
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Auf dem Markt hört man die Leute Arabisch, Französisch und Flämisch sprechen; zahlreiche Frauen tragen Kopftuch. In den 1960er-Jahren wurden Gastarbeiter vor allem aus Marokko angeworben, die meisten von ihnen zogen nach Molenbeek. In den 1970er-Jahren versuchte die belgische Regierung sich mit Saudi-Arabien gutzustellen und stellte Moscheen für zum Teil salafistische Prediger aus den Golfstaaten bereit.

Heute ist jeder vierte der rund 95.000 Einwohner des Bezirks ausländischer Staatsbürger, das Viertel ist jünger als die meisten anderen in der Hauptstadt – und ärmer. Im Durchschnitt liegt die Arbeitslosigkeit bei rund 30 Prozent, unter den Jugendlichen bei 40 Prozent.

Pittoreske Straßenzüge, multikulturelle Bevölkerung.
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Unmittelbare Zentrumsnähe

Immer wieder führte in den vergangenen Jahren nach islamistischen Angriffen die Spur in das Viertel der belgischen Hauptstadt, nur rund 20 Gehminuten von der zentralen Grand Place entfernt. Einige der Attentäter der jüngsten Anschläge von Paris hatten hier gelebt. Und auch jener Angreifer, der im August 2014 vier Menschen im Jüdischen Museum in der Brüsseler Innenstadt getötet hat. In Molenbeek beschwert man sich, dass das Viertel oft nur mit dem Stichwort "Islamistenhochburg" in Zusammenhang gebracht wird, die Ursachen der Probleme aber nur selten genannt werden. Auch die Medien geraten in die Kritik.

Der Fleischhauer Ismail* kam vor 15 Jahren aus Marokko nach Belgien und hat seitdem keine Schwierigkeiten gehabt. "Ich habe alles, was ich brauche, Molenbeek ist das beste Viertel", sagt er und wischt das Fleischermesser an seiner Schürze ab. Die Probleme – etwa grassierender Islamismus – würden "von den Medien" aufgebauscht werden.

"Hier ausschneiden, um Ihr bürgerliches Interieur zu dekorieren."
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Auch die österreichische Filmemacherin Christine Moderbacher (33), die ein Jahr Feldforschung in einem Ausbildungszentrum für Jugendliche in Molenbeek betrieben hat, hat hier niemals schlechte Erfahrungen gemacht. "Das heißt aber nicht, dass es keine Probleme gibt," fügt sie hinzu. Was in den Medien berichtet wird, sei nicht prinzipiell falsch, "aber die Hintergründe fehlen".

Bürokratisches Wirrwarr

Einer davon: die politische Struktur Belgiens und vor allem Brüssels. Die Hauptstadt ist in 19 Bezirke unterteilt, jeder von ihnen hat eine eigene Verwaltung und einen eigenen Bürgermeister. Die Sicherheitsbehörden leiden unter der starken Dezentralisierung; die vielen Verwaltungsebenen erschweren den Informationsfluss zwischen den Ermittlern. Viele der Bewohner seien zugleich sehr isoliert, weil sie ihr Viertel nur selten verlassen, erklärt Moderbacher. "Rathaus, Schule, Spital – alles ist innerhalb eines Bezirks." Mit der Konsequenz, dass man unter sich bleibe. Die Radikalisierung in Molenbeek findet nicht am Stadtrand in weiter Ferne, sondern in unmittelbarer Zentrumsnähe statt – und ist somit nur schwer mit den verrufenen Pariser Banlieues zu vergleichen.

Die österreichische Anthropologin und Filmemacherin Christine Moderbacher lebt in Brüssel und verfasst derzeit ihre Dissertation im Rahmen des Projekts "KFI – Knowing from the Inside".
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Keine Perspektiven

"Es gibt keine Zukunft hier," sagt der 23-jährige Jamal*, der in Molenbeek geboren und aufgewachsen ist. Er war zwei Jahre auf einer Warteliste, bis er mit seiner Lehre zum Maurer anfangen konnte und kritisiert die Perspektivlosigkeit, mit der junge Menschen in Molenbeek konfrontiert sind. Den Jugendlichen fehle es vor allem an Beschäftigung und Anlaufstellen: "Wenn man sich die Anzahl von Sozialbetreuungstellen und die Anzahl von Jugendlichen ansieht, ist das nicht genug", sagt Jamal.

Da sei es kein Wunder, wenn man sich auf Islamisten einlasse, die ihnen zumindest das Gefühl geben, dass man sich um sie kümmert und ihnen Perspektiven bieten – selbst wenn diese im Jenseits liegen. Jamal selbst glaubt aber, dass "weniger als eine Minderheit" militante Bewegungen wie den "Islamischen Staat" (IS) unterstützt. "Ich weiß sowieso nicht, wie man für einen Staat sein kann, der Leute abschlachtet und köpft. Das ist nicht der Islam." Jamal fordert mehr Jugend- oder Kulturzentren, die sich um die Betreuung der Jugendlichen kümmern, damit sie nicht in die Radikalisierung abdriften.

"Der Bezirk hat einfach zu wenig Geld", vermutet Christine Moderbacher. Die wenigen finanziellen Mittel würden eher in Maßnahmen der Gentrifizierung investiert werden: in hippe Lokale, Design-Depots oder teure neue Lofts. "Es sind nicht unbedingt Leute aus Molenbeek, die davon profitieren."

Neubauten in bester Lage nahe der glitzernden Brüsseler Innenstadt: Molenbeek beginnt sich zu verändern, zumindest optisch.

Indes verfestigt sich die Überzeugung von der "Islamistenhochburg Molenbeek" in den Köpfen vieler Menschen von außerhalb. Was sich nach den jüngsten Anschlägen in Paris verändert habe, seien vor allem die Blicke der Menschen, sagt Jamal. "Wenn man jetzt sagt, man kommt aus Molenbeek, ist das nicht mehr das Gleiche – jetzt gibt es gleich eine Verbindung zum Terrorismus." (Noura Maan aus Brüssel, 12.12.2015)