STANDARD: Wozu braucht denn der Mensch das Theater?
Stein: Das braucht er überhaupt nicht. Ein Stückchen Brot braucht er. Frieden wäre auch gut. Theater und Kunst braucht kein Mensch. Nur ist das die einzige Hervorbringung der menschlichen Rasse, von der es sich lohnt, sich damit zu beschäftigen. Ölplattformen sind für mich keine grandiose Leistung des Menschengeschlechts. Kunst ist das Einzige, das die Existenz des Menschen überhaupt rechtfertigt.
STANDARD: Das berührt die altbekannte, ewige Frage nach dem Sinn des Lebens und jenem der Kunst.
Stein: Das sind Themen des Theaters. In erster Linie geht es um den Tod. Das Theater ist überhaupt erst daraus entstanden, dass wir zum Tode geboren sind. Das Theater wurde dazu gegründet, sich mit dieser Frage ausführlich zu beschäftigen: Obwohl es ununterbrochen davon handelt, dass es keinen Ausweg gibt und man sich in einer tragischen Verstrickung empfindet, lebt man das Leben weiter – und zwar mit einer größeren Bewusstheit und Intensität. In der Spätrenaissance wurde die Oper erfunden, um die Tragödie wiederzubeleben: Sie war eine produktive Fehlinterpretation der Antike, aber die Themen sind dieselben geblieben.
STANDARD: Bilden für Sie als Regisseur das Theater und das Musiktheater eine Einheit?
Stein: Ich empfinde das so, aber das liegt daran, dass ich mich von klein auf viel mit Musik beschäftigt habe. Deshalb ist das für mich ein Zusammenhang. Jetzt im Alter ist die Oper mein ausschließliches Betätigungsfeld, weil ich im Theater keine Angebote mehr bekomme.
STANDARD: Macht Sie das unzufrieden?
Stein: Nein. Ich hätte einige Wünsche, was das Theater betrifft, was ich noch machen wollte. Unzufrieden bin ich nicht, aber fröhlich macht es mich auch nicht. Aber das ist untergeordnet. Ich habe vorläufig genug Arbeit.
STANDARD: Gibt es für Sie in Ihrer künstlerischen Arbeit etwas, das Sie beständig verfolgen oder das Sie verfolgt?
Stein: Nein, das kann ich nicht sagen, es sei denn die grundlegende Geschichte, von der ich schon gesprochen habe: Das Hauptproblem der menschlichen Existenz ist der Tod. Das präsentiert sich in tausenden Abschattierungen – und übrigens auch in komischer Form. Verdis "Falstaff" ist eine wirkliche Komödie – übrigens die Oper, die von mir am erfolgreichsten war, weil sie am häufigsten wiederaufgenommen und auf der ganzen Welt gezeigt wurde. Das war bei anderen Opern nicht so. Ich bin kein internationaler Verkäufer.
STANDARD: Doch kommt man ja, was die Oper betrifft, in ausreichendem Maße auf Sie zu.
Stein: Bei der Oper wartet man eher darauf, was einem angeboten wird. Bei der "Sache Makropulos" war es so, dass mich Dominique Meyer gefragt hat, was ich gerne machen möchte. Ich habe "Aus einem Totenhaus" gesagt, aber das wurde ja 2011, also vor nicht allzu langer Zeit, von Herrn Konwitschny gemacht. Also bekam ich "Makropulos" ...
STANDARD: ... als Ihre erste Janáček-Inszenierung. Ein Komponist von vitaler Kraft, aber auch feiner Klinge, ein Meister der Zwischentöne – auch zwischen Tragik und Komik. Entspricht Ihnen das?
Stein: In der literarischen Vorlage von Karel Čapek gibt es eine Reihe komischer Elemente. Janáček konzentriert sich in seiner Bearbeitung (mit der Arbeit daran begann er 1923, Uraufführung war 1926 in Brünn, Anm.) hingegen auf das Thema des Todes: dass eine Figur, die hunderte Jahre lebt, am Ende sagt: Das war ein großer Fehler. Dem Publikum wird gesagt, sie sollen glücklich sein, dass sie sterben dürfen – nicht müssen, sondern dürfen. Das ist natürlich auf die Spitze getrieben. Ich habe besonderen Wert darauf gelegt, dass ständig Momente kommen, in denen die Figur der Emilia Marty drauf und dran ist zusammenzubrechen. Sie braucht dringend einen Schuss, der sie weitere 300 Jahre leben lässt, sonst ist sie tot. Das versuche ich so deutlich zu machen, wie es geht.
STANDARD: Die Musik in einer Oper ist Ihnen ja alles andere als gleichgültig. Wie gehen Sie mit dem eigenen Tempo und der Dramaturgie von Janáček um?
Stein: Ich mache immer genau das, was in der Partitur steht – und würde mir nur wünschen, dass das Orchester das auch tut. Die Partitur ist mit ihren ständigen Rhythmuswechseln nicht leicht zu spielen und wechselt ständig zwischen forte und piano. Das muss man genau berücksichtigen, sonst gibt es Schwierigkeiten für die Sänger. Und das wäre sehr schade.
STANDARD: Sie bezeichnen sich gerne als "reaktionären" und "konservativen" Regisseur. Ist das nicht – auch – eine Koketterie Ihrerseits?
Stein: Das sind Ausdrücke, die von Ihren Kollegen auf mich gemünzt wurden. Das hat mit Koketterie überhaupt nichts zu tun. Es ist auch nicht kokett, wenn ich sage, dass ich immer das mache, was in der Partitur steht. Manchmal scheitert man, weil die Vorschläge in der Partitur gar nicht realisierbar sind. Aber es geht immer darum, was der Autor wollte. Ich selber komme mit sogenannten Ideen nicht dazwischen. Mein Interesse ist eine Interpretation der Intentionen des Autors, wie sie sich im Werk darstellen – also weniger dem Werk treu als dem Autor. Ich nähere mich nicht einem Werk, um es als Steinbruch zu benutzen und meine Assoziationen daranzukleben.
STANDARD: Aber die Interpretation ist doch wohl die Ihre?
Stein: Nein, nein, nein. In meiner Interpretation bündeln sich verschiedene Interpretationen: Alle, die ein Werk schon gemacht haben, schaue ich mir an. Was man dazu sagt, was die Geschichte dieses Werkes ist, das kommt alles da hinein. Mein Anteil ist jener der Kombination bestehender Interpretationen, die ich am musikalischen Fakt überprüfe. Meine Interpretation reicht nicht weiter als die eines Dirigenten, der versucht, die Partitur zu realisieren. (Daniel Ender, 11.12.2015)