Bild nicht mehr verfügbar.

Eine Bosnierin betet in der Gedenkstätte für die Opfer des Massakers von Srebrenica. 1995 wurden dort 8000 Muslime getötet. Insgesamt forderte der Bosnienkrieg etwa 100.000 Menschenleben.

Foto: EPA / Fehim Demir

Er wollte nur nach Hause und an die Uni. Boris Mrkela war im Herbst 1995 auf dem Berg Vlasic in 1400 Meter Höhe stationiert, ganz in der Nähe der Frontlinie. In seiner Einheit der Armee der Republika Srpska (RS) hatte man zu diesem Zeitpunkt Angst, dass Banja Luka fallen würde. Nach der Rückeroberung der kroatischen Krajina durch die kroatische Armee eroberte auch die bosnische Armee große Teile Bosniens zurück. Mrkela arbeitete als Bäcker in der Armee. Während andere Soldaten im Herbst 1995 schon nach Hause durften, konnte man ohne Bäcker nicht auskommen. Mrkela musste also bleiben. "Ich hatte Angst, dass ich nach eineinhalb Jahren auf dem Berg nicht mehr heimkann", erinnert er sich.

Der damals 27-Jährige war zu diesem Zeitpunkt bereits zweimal desertiert. Er hatte schon als Jugendlicher muslimische und katholische Freunde gehabt, und mitten im Krieg traf er sich mit einem muslimischen Mädchen. "Ich war froh, als der Krieg vorbei war, aber ich hatte Angst, dass ich wegen des Desertierens noch zur Verantwortung gezogen würde."

Die Eroberungen der bosnischen Armee ab Sommer 1995 waren die Voraussetzung dafür, dass die Armee der Republika Srpska zu Verhandlungen bereit war. Das führte schließlich zum Friedensabkommen von Dayton. Doch auf der Seite der bosnisch-serbischen Armee überwog das Gefühl der Niederlage. "In der Republika Srpska machte sich damals große Enttäuschung breit", erinnert sich Mrkela. Er findet es interessant, dass die Situation sich heute umgedreht hat. "In der Republika Srpska ist man jetzt sehr zufrieden mit Dayton – in der Föderation hingegen mag man das Abkommen nicht." Daran merke man, so Mrkela, dass Dayton eben nicht Dayton sei, sondern eine Frage der Interpretation.

Dayton ist tatsächlich nicht gleich Dayton: Heute berufen sich am ehesten bosnische Serben auf das Abkommen, weil es der Republika Srpska (RS) weitgehende Autonomierechte zusichert. Gleichzeitig gibt es aber von einem Teil der politischen Eliten in der RS seit vielen Jahren Versuche, die Verfassung zu brechen und die Unabhängigkeit der RS voranzutreiben.

Verfassung festgeschrieben

Dayton ist der einzige Friedensvertrag, in dem eine Verfassung verankert ist. Und das ist auch das Grundproblem. "Der entscheidende Fehler war, dass man keinen Verfassungsprozess ermöglicht hat wie im Kosovo, im Irak oder in Afghanistan", meint der Südosteuropa-Experte der Uni Graz, Florian Bieber. "Wenn man zunächst eine Interimsverfassung gemacht hätte, dann hätte man in einem längeren Prozess mit mehr Substanz ein Grundgesetz ausarbeiten können, das viel mehr Legitimität hätte."

Doch zum Zeitpunkt des Abkommens waren alle Diplomaten von den unzähligen gescheiterten Verhandlungen im Krieg geprägt. Das gegenseitige Vertrauen war äußerst gering. "Man dachte, dass man das schnell aufs Papier bringen muss, und ist auf Detailfragen gar nicht eingegangen."

Durch den Vertrag sind die Blockade- und Vetomöglichkeiten der beiden Entitäten bis heute stark. Bieber meint, dass man das damals nicht als Problem erkannt habe. "Die Tatsache, dass etwa im Haus der Völker so wenige Abgeordnete sitzen und diese wenigen über ein Veto entscheiden können, war nicht bewusst. Heute ist man schlauer." Die ethnischen Quoten, die durch Dayton festgelegt sind – auch in der Verwaltung sind jeweils Plätze für Bosniaken, Serben und Kroaten reserviert – sind an sich nichts Einzigartiges. "Nur die Komplexität des Systems ist besonders hoch", so Bieber.

Keine Feierlaune

Kurz vor dem 20. Jahrestag der Unterschrift unter den Vertrag am 14. Dezember kommt auch in Sarajevo keine Feierstimmung auf. Der Frieden hat nicht gebracht, was man sich erhofft hatte.

Der damals 18-jährige Mustafa Niksic kann sich noch genau an den Tag des Abkommens erinnern, weil er an diesem seinen Fahneneid leisten musste. "Ich hatte soeben meine Matura gemacht und über Astrophysik referiert, als die Stadt von allen Seiten beschossen wurde. Es war surreal: Ich sprach über die Entstehung der Sterne, und um mich herum brach alles zusammen." Seine Familie und seine Freunde dachten nach dem Krieg, es würde jetzt so sein wie nach dem Zweiten Weltkrieg, erzählt Niksic. "Wir kannten die Fotos von Leuten, die auf der Straße feierten. Aber es war überhaupt nicht so. Das Gefühl war das einer totalen Leere."

Für viele ist Dayton ein Provisorium geblieben. "Man hat das Gefühl, dass die Vergangenheit noch heute relevant ist, und es wird an den Kriegszielen festgehalten", so Bieber. Der Politologe spricht von einer Konsensdemokratie ohne Konsens: "Es fehlt Einigkeit über das Wichtigste – nämlich darüber, wie man regiert, wie man den Staat organisiert." (Adelheid Wölfl, 11.12.2015)