Sebastian Kurz ist Österreichs größtes politisches Talent. Als das seit 2011 für Integration verantwortliche Regierungsmitglied hat Kurz das Thema entideologisiert und einen pragmatischen Weg für das Zusammenleben vorgezeichnet, der beiden Seiten ernsthafte Beiträge und Zugeständnisse abverlangt.
Seit einigen Monaten sieht sich Minister Kurz in einer weiteren Funktion: Er ist zum eloquenten Sprachrohr all jener Bürger geworden, die zwar grundsätzlich nicht fremdenfeindlich sind, aber im Spannungsfeld zwischen Flüchtlingsstrom, islamistischem Terror und offensichtlichen Problemen bei der Integration von Muslimen immer stärkeres Unbehagen fühlen. Lautstark warnt er vor Parallelgesellschaften und fordert von Zuwanderern und eingesessenen Minderheiten die Einhaltung liberal-demokratischer Werte auch im eigenen Interesse ein.
Auch wenn Kurz manchmal zuspitzt, so ist diese Rolle legitim: Wenn die Mainstream-Politik solche Ängste nicht ernst genug nimmt, überlässt sie das Feld den Hetzern und Populisten.
Aber immer öfter nutzt Kurz seine rhetorischen Fähigkeiten für Angriffe auf den politischen Gegner, der allerdings mit ihm in der Regierung sitzt. Wenn der 29-Jährige gegen getrennte Frauenkurse für Musliminnen beim Arbeitsmarktservice wettert oder vor einer salafistischen Unterwanderung von Privatkindergärten warnt, dann attackiert er in erster Linie die SPÖ im Bund und in Wien und wirft ihr Blindheit, Fahrlässigkeit und falsch verstandene Toleranz vor.
Diese ist seinen Angriffen kaum gewachsen, denn Kurz trifft wunde Punkte der Integrationspolitik. Die Chefin des AMS Wien redete sich vergangene Woche mit organisatorischen Argumenten heraus, als Kurz die Geschlechtertrennung bei den Kompetenzchecks anprangerte. Es lag an STANDARD-Kolumnistin Barbara Coudenhove-Kalergi aufzuzeigen, warum dies in manchen Fällen sehr wohl der Integration dienen kann.
Auch die Wiener Stadtregierung wurde von dem durch Kurz beauftragten Expertenpapier über islamische Kindergärten auf dem falschen Fuß erwischt. Spontane SPÖ-Vorschläge wie ein Religionsleitfaden klingen so, als würde die Partei nur von mangelhaften Kontrollen ablenken wollen.
Aber gerade weil Kurz mit so viel Überzeugung einfache Lösungen präsentiert, sollte man misstrauisch sein. Denn für die Probleme des Zusammenlebens verschiedener Kulturkreise existieren keine Patentrezepte. Nicht alles, was die Stadt Wien tut, ist erfolgreich; aber eine Hau-ruck-Integration, wie sie Kurz mit seinen Wertekursen und Deutschverpflichtungen verspricht, wäre es noch weniger. Damit agiert er nicht so anders als Heinz-Christian Strache, der Ausgrenzung als schnellen Ausweg vorgaukelt.
Bei der Integration gibt es keine echten ideologischen Differenzen zwischen SPÖ und ÖVP; niemand will Jihad unter Kindern und Jugendlichen. Daher wäre es Kurz' Aufgabe als Minister, gemeinsam mit der SPÖ konstruktive Strategien zu entwickeln. Stattdessen wechselt er – genauso wie sein Klubchef Reinhold Lopatka – bei jeder Gelegenheit politisches Kleingeld mit dem Koalitionspartner.
Seiner Parteikarriere mag das helfen, dem Land aber nicht. Vielleicht braucht der 29-Jährige noch Zeit zu lernen, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen. Es lässt aber auch vermuten, dass in diesem klugen Kopf auch etwas Kleingeistigkeit lebt. (Eric Frey, 10.12.2015)