Kabul/Dubai – Nicht einmal ein Jahr ist es her, dass die Nato ihren Kampfeinsatz in Afghanistan offiziell beendete. Seitdem verschlechtert sich die Sicherheitslage rasant, und die Taliban sind auf dem Vormarsch. Nun erreichte die Gewaltwelle einen neuen Höhepunkt: Über 60 Menschen starben bei einem Taliban-Angriff auf den zweitgrößten Flughafen des Landes in Kandahar. Erst nach über 27 Stunden gelang es den Sicherheitskräften am Mittwochabend, den letzten Angreifer zu töten.

Attackiert wurde allerdings nicht der Flughafen selbst, sondern ein Wohnareal der afghanischen Streitkräfte auf dem Gelände. Unter den Toten waren 38 Zivilisten, zwölf Sicherheitskräfte sowie elf Angreifer. Das Blutbad war ein erneuter Rückschlag für Hoffnungen auf Frieden – und fiel kaum zufällig mit einer hochkarätigen Afghanistan-Konferenz in Islamabad zusammen. Unter dem Motto "Herz Asiens" erörterten dort Vertreter Afghanistans, Pakistans, Indiens und weiterer Länder am Mittwoch Chancen für eine Lösung am Hindukusch.

Präsidialer Appell

Trotz des Angriffs in Kandahar appellierte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani an "alle Taliban, mit der afghanischen Regierung Friedensgespräche aufzunehmen". Auch die USA, China und Pakistan sprachen sich für Verhandlungen aus. Das Nachbarland Pakistan spielt eine Schlüsselrolle. Seit dem Sturz der Taliban Ende 2001 soll Pakistan deren Führungsspitze Asyl gewähren. Unter Vermittlung Islamabads war es im Sommer zu ersten Treffen zwischen Afghanistans Regierung und den Taliban gekommen. Doch die Gespräche wurden abrupt gestoppt, als durchsickerte, dass Taliban-Führer Mullah Omar schon bereits seit Jahren tot sei, aber die Taliban-Spitze dies verheimlicht hatte.

Inzwischen erscheint die Lage zusehends verfahren. Der Tod ihres legendären Führers hat die Taliban in blutige Machtkämpfe gestürzt, die mögliche Verhandlungen mit Kabul verkomplizieren. Zwar reklamierte der Omar-Vize Mullah Akhtar Mansour den Cheftitel für sich und setzte sich handstreichartig an die Spitze der Aufständischen – doch seine Autorität ist umstritten: Viele sehen ihn als Marionette Pakistans. Ein Teil der Taliban verweigert ihm die Gefolgschaft, andere liefen zum afghanischen Ableger der IS-Miliz über.

Unklarheit über Mansour

Als Mansour sich vergangene Woche mit einigen Kommandanten aussprechen wollte, kam es angeblich zu einer Schießerei. Mansour soll verwundet worden sein, einige Quellen behaupteten sogar: getötet. Die Taliban verbreiteten daraufhin eine Audiobotschaft, die von Mansour stammen soll. Auch Ghani stößt mit seinem Kurs in den eigenen Reihen auf scharfe Kritik. Gruppen wie die Nordallianz lehnen Verhandlungen mit den Taliban ab – doch bleibt Ghani kaum eine andere Wahl, als das Gespräch zu suchen, will er das Blutvergießen eindämmen. Am Mittwoch brachten die Taliban den Distrikt Khanischin in Helmand unter ihre Kontrolle.

Der pakistanische Taliban-Experte Ahmed Rashid hält inzwischen eine Rückkehr der Taliban an die Macht – zumindest in ihren Hochburgen im Süden – nicht mehr für unwahrscheinlich. Die Folge werde eine weitere Destabilisierung der gesamten Region, einschließlich Pakistans und Zentralasiens sein, "die die perfekten Bedingungen für eine Ausweitung des 'Islamischen Staates' schaffen" würde, warnte Rashid nun im britischen Magazin The Spectator. (Christine Möllhoff, 11.12.2015)