In seinem Buch "Mut zum Absprung" gibt Alexander Pointner seine Erfahrungen als Erfolgstrainer weiter.

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Wien – Mit dem ÖSV-Skisprungteam hat der einstige Cheftrainer Alexander Pointner Erfolge am Fließband gefeiert, 32 Medaillen bei Großereignissen standen nach seiner zehnjährigen Amtszeit zu Buche. Als er im November 2014 sein Buch "Mut zum Absprung" präsentieren wollte, traf den vierfachen Familienvater ein schwerer Schicksalsschlag: Seine 16-jährige Tochter liegt seit einem Suizidversuch im Wachkoma. Nun holt Pointner Vergangenes nach, spricht über sein Buch, den ÖSV und die schwierigsten Zeiten.

STANDARD: Vor einem Monat haben Sie mit Ihrer Frau im Radio über Ihre Tochter gesprochen. Es hieß, keiner der ehemaligen ÖSV-Kollegen habe sich in dieser schwierigen Zeit bei Ihnen gemeldet. Ist es dabei geblieben?

Pointner: Nein. Drei Leute haben sich gemeldet. Ein Springer, ein Physiotherapeut und der sportliche Leiter. Davor kam ein Jahr lang nichts.

STANDARD: Die Enttäuschung saß tief.

Pointner: Im Sport kümmert man sich immer wieder um soziale Projekte. Das ist sehr gut so. Wenn meine ehemaligen Athleten etwas organisieren, und nebenan ist das Schicksal von einem, mit dem sie zehn Jahre gearbeitet haben, schmerzt das aber.

STANDARD: Warum sind Sie mit dem Schicksal Ihrer Familie an die Öffentlichkeit gegangen?

Pointner: Es war sehr anstrengend, einer Arbeit mit sozialem Kontakt nachzugehen. Man konnte schauspielern. Oder man konnte das Thema ansprechen. Zehnmal, fünfzehnmal, hundertmal. Beides kostet sehr viel Energie. Also haben wir uns entschlossen, über dieses Thema, das noch immer ein Tabuthema ist, öffentlich zu reden. Um auch unserer Arbeit befreiter nachgehen können.

STANDARD: Wie wurde darauf reagiert?

Pointner: Die Reaktionen waren sehr stark. Sie waren ausschließlich positiv. Einige waren dankbar, dass man das Thema Depression anspricht. Viele trauen sich nicht zum Arzt, weil sie denken, es könnten ihnen Nachteile entstehen. Ich bin dankbar für jede Rückmeldung.

STANDARD: Wie haben Sie im vergangenen Jahr den Alltag bewältigt?

Pointner: Die ersten Monate konnten wir gar nichts machen, wir waren wie gelähmt. Es war sehr schwer, andere Gedanken zu fassen. Das Bühnenbild war so dominant, dass es fast kein anderes Bühnenbild zuließ. Es waren Existenzängste da: Wie soll es weitergehen? Weil einem der Antrieb fehlt. Das macht die Ängste noch größer. Dann fangen die Schleifen an: Was hätte man anders machen können, damit es nicht zu so einer Situation kommt? Man dreht sich im Kreis.

STANDARD: Gab es ein soziales Netz?

Pointner: Viele Leute haben uns ohne Eigenzweck geholfen. Es war eine bedingungslose Hilfsbereitschaft. Volleyball-Kolleginnen meiner Frau haben ein Radl auf die Beine gestellt, um uns Essen zu bringen. Manche haben das Essen vor die Tür gestellt, andere haben geläutet. Es war ihnen egal, ob sie eine positive Rückmeldung bekommen, die wollten einfach nur helfen. Sie wussten, dass wir vorne und hinten nicht mehr zusammenkommen.

STANDARD: Und heute?

Pointner: Geht es besser, wir haben ein bisschen Boden unter den Füßen bekommen. Meine Frau hat einen Roman geschrieben, das hat über die schwierige Zeit geholfen. Aber der Umfang, den die Trauer einnimmt, lässt sich nicht halbieren. Man muss sie abarbeiten, um neue Perspektiven zu finden. Wir haben externe Hilfe in Anspruch genommen, es gibt Spezialisten.

STANDARD: Was nehmen Sie von denen mit?

Pointner: Man kann Vergangenes nicht wiedergutmachen. Aber man kann es jetzt gut machen.

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So kennt man Alexander Pointner: Als Mann mit der Fahne.
Foto: Reuters/Pfaffenbach

STANDARD: Sie haben schon während der Zeit im ÖSV Ihre Depressionen thematisiert. Wie passt das in die heile Welt des Verbandes?

Pointner: Schlecht. Für die Verbandsspitze ist Depression eine Schwäche. Menschen mit dieser Einschätzung führen Verbände und Konzerne. Das ist einer der Gründe, warum Depressionen noch immer ein Tabuthema sind.

STANDARD: Hatten Sie keine Angst, dass man dies intern gegen Sie verwenden könnte?

Pointner: Nein, ich wusste, was auf mich zukommt. Wenn man dann nicht gewonnen hat, hieß es, der Chef sei nicht bei vollen Kräften. Dann kommt das Thema auf einen zu, dem habe ich mich aber gerne gestellt.

STANDARD: Und damals galt schon ein zweiter Platz als Niederlage. Sie waren also leicht angreifbar.

Pointner: Ich kann mich an Zeiten erinnern, da wurden wir Zweiter, Dritter und Vierter. Am nächsten Tag stand in der Zeitung zu lesen, man hätte den Superadlern die Flügel gestutzt. Am vergangenen Wochenende haben sich die Kommentatoren gefreut, dass einer in die Top Ten gesprungen ist.

STANDARD: Ihr ehemaliger Schützling Thomas Morgenstern hat kürzlich ein Buch veröffentlicht. Er meint, Konflikte im Team seien nur um fünf Ecken gelöst worden. Ist diese Kritik nachvollziehbar?

Pointner: Das muss ich mir mit ihm ausreden. Bis zu einem gewissen Grad muss der Blickwinkel des Sportlers egoistisch sein. Allerdings nahm es in unserem Team überzogene Ausmaße an. Sobald man mit einem sprach, hieß es, man kümmere sich nicht um die anderen.

STANDARD: Nahmen die Konflikte generell überhand?

Pointner: Konflikte soll und darf es geben. Man will nicht lieb und brav sein, um dann in Schönheit zu sterben. Das Betreuerteam hat viel Zeit verbracht, um Konflikte zu bewältigen. Bei den Olympischen Spielen von Sotschi sind wir nächtelang gesessen.

STANDARD: Aber es ist nicht mehr geglückt, die Risse zu kitten. Schlierenzauer war unglücklich, Morgenstern ebenso. Nutzen sich Beziehungen im Profisport zwangsläufig ab?

Pointner: Bei uns war es nach vielen erfolgreichen Jahren der Fall. Es lief nicht optimal, und jeder hat nach den Ursachen gesucht. Der Wille war da, etwas Neues auszuprobieren. Man wollte einen anderen Weg einschlagen.

STANDARD: Ist der Teamgedanke den Springern abhandengekommen?

Pointner: Am Anfang ist es für jeden Athleten schön, beim A-Team dabei zu sein. Dann bemerkt er, dass er mit dem Team etwas bewegen kann. Wir haben damals jedes Mannschaftsspringen gewonnen. Später will jeder alleine ganz oben stehen. Da fangen die Konflikte an.

STANDARD: Wie macht sich das konkret bemerkbar?

Pointner: Das Verbandssystem wird unter die Lupe genommen. Der Sportler will mehr verdienen, als vom Plan für ihn vorgesehen ist. Das Umfeld, das durch den Sportler verdient, treibt ihn in dieser Idee an.

STANDARD: Wie kann man als Cheftrainer entgegenwirken?

Pointner: Man muss an die Spielregeln erinnern. Der Verband investiert sehr viel Geld in die Jugend, das später durch Werbeflächen am Sportler wieder hereinkommen soll. Es ist ein Kreislauf.

STANDARD: Kommt man mit diesen Worten noch durch?

Pointner: Sagen wir so: Es wird nicht einfacher, das Team zusammenhalten.

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Alexander Pointner (rechts) und Thomas Morgenstern: Es war nicht immer einfach.
Foto: APA/Gindl

STANDARD: Sie haben sehr viel Zeit mit Ihren Athleten verbracht. Gehen die Beziehungen über ein Arbeitsverhältnis hinaus?

Pointner: Ich habe einige schon als Jugendliche begleitet, da macht man vieles gemeinsam durch. Man muss als Trainer aber etwas fordern. Man muss Entscheidungen treffen, die nicht alle glücklich machen. Es ist also weder ein reines Arbeitsverhältnis noch auf pure Freundschaft ausgelegt.

STANDARD: Sie beraten mit dem bulgarischen Skispringer Wladimir Sografski jetzt einen Juniorenweltmeister. Ist es angenehm, sich nicht mehr mit den Querelen eines großen Teams herumplagen zu müssen?

Pointner: Es ist das Geschäft eines jeden Trainers, mit solchen Kräften zu spielen. Dieser Aufgabe würde ich mich wieder stellen. Für den Moment ist es aber befreiend, wenn einiges wegfällt.

STANDARD: Was fehlt Ihnen am wenigsten?

Pointner: Das Leben wird im Alter nicht einfacher. Man muss immer mehr Aufgaben bewältigen. Wenn dann jemand meint, sein kleines Problem wäre der Mittelpunkt des Universums, kann ich das nicht immer ernst nehmen. Ich will mich nicht mehr mit jedem Kindergarten auseinandersetzen. (Philip Bauer, 11.12.2015)