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Betteln, Taschentücher verkaufen, Harmonika spielen. Viele syrische Flüchtlingskinder in der Millionenstadt Istanbul sind auf der Straße, wie hier an der Bosporus-Anlegestelle in Eminönü.

Foto: AFP / Bulent Kilic

Nichts scheint sonderlich liebenswert an dieser kleinen, kurzen Gasse, die doch Honigstraße heißt. Ein Rinnstein läuft in der Mitte für den Regen und den Dreck, es gibt keine Bäume und keinen Gehweg. Den Platz nehmen sich die Autos, die knapp an die Hausmauern geparkt werden. Der kalte Herbstwind fegt den Geruch der Kohle durch die Gasse, mit der hier noch manche Öfen befeuert werden. Oben hängt der Himmel über Istanbul, fünf Meter breit, und gibt den Miethäusern ein fahles Licht. Im kleinsten wohnt die Familie Nadir. "Willkommen in unserer zweiten Heimat", sagt Vater Nadir trotzdem.

Man steigt eine enge Betontreppe hinauf in den zweiten Stock, wo die Familie nun lebt. Zwei Zimmer, Küche und Bad für die Familie aus Syrien: Vater, Mutter, drei Kinder. Nadir ist nicht ihr richtiger Name.

Nichts ist legal in ihrem Leben. Weder der Mietvertrag noch die Schule für die Kinder noch die schlecht bezahlte Arbeit, die der Vater gefunden hat. Aber die Nadirs sind der Wunschtraum der Europäer: syrische Kriegsflüchtlinge, die in der Türkei bleiben und nicht nach Österreich und Deutschland weiterziehen. "Sozialer Einbezug" heißt das im Papier der EU. Mit drei Milliarden Euro ist das Problem halbwegs erledigt, glaubt sie. Ab Jänner wird die Flüchtlingshilfe an die Türkei gezahlt, sagt sie. Nächsten Donnerstag wird nach langer Pause in Brüssel wieder ein Kapitel in den Beitrittsverhandlungen geöffnet. Das stimmt die türkische Führung freundlich. Denkt sie.

Hoffnung auf die Rückkehr

"Reich werden wir hier nicht", sagt Vater Nadir, ein freundlicher, trauriger Mann in den Vierzigern. "Wir überleben gerade so. Sobald wir können, gehen wir zurück nach Syrien." Und wenn es noch fünf oder zehn Jahre dauert? "Die Kinder werden älter", sagt Nadir, "sie werden einmal für uns sorgen." Apothekerin will die älteste Tochter werden. Jetzt ist sie 13 und spricht schon etwas Türkisch. Das Fernsehen hilft.

Die Nadirs sind typisches syrisches Bürgertum, kultiviert und wohlhabend, bis der Krieg kam und alles kaputtmachte. Die Mutter arbeitete 15 Jahre lang für die Unicef, der Vater ist Kalligraf, ein Designer für arabische Schriftzeichen, und hatte nebenbei noch einen Supermarkt. 18 Angestellte und 50 mal 50 Meter groß, sagt er stolz. Ein großes Haus mit Garten besaßen sie in ihrer Heimatstadt, 70 Kilometer von Aleppo.

Jedes der Kinder hatte ein eigenes Zimmer, "fast so groß wie diese Wohnung", schwärmt der Vater. Nichts davon ist mehr übrig. "Jetzt mache ich Gabeln und Löffel", sagt er und lächelt. Nadir hat Arbeit in einem Metallunternehmen gefunden, sogar nicht allzu weit von der Wohnung im Westen Istanbuls. Er schneidet Besteck und Servierplatten an Maschinen, zehn Stunden am Tag für 1100 Lira, umgerechnet derzeit 355 Euro. Die türkischen Kollegen bekämen mehr als doppelt so viel, erzählt er – 2500 Lira und natürlich die Sozialversicherung.

Historische Ausmaße

2,2 Millionen syrische Flüchtlinge hat das Nachbarland Türkei seit dem Beginn des Kriegs vor vier Jahren bisher aufgenommen. Was in Europa auch übersehen wird: Für die Türkei ist es die größte Welle an Flüchtlingen seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg und der Gründung der Republik 1923.

150.000 syrische Kinder sind in den vergangenen vier Jahren in Lagern und in den Städten geboren worden. Laut einer neuen Studie der Hacettepe-Universität in Ankara haben nur genau 3686 Syrer den türkischen Behörden eine Arbeitsgenehmigung abtrotzen können. Die Zahl der syrischen Schwarzarbeiter aber wird auf 400.000 geschätzt. Darunter sind auch viele Kinder.

65 Euro zum Essen

Die Nadirs kommen so gerade über die Runden. 600 Lira Miete kostet die Wohnung – ein sehr korrekter Preis angesichts der Wuchersummen, die Flüchtlingen anderswo abgepresst werden. 200 Lira im Monat, umgerechnet 65 Euro, bleiben zum Essen. Wie sie damit die Familie ernähren, wollen die Eltern nicht sagen; es macht sie verlegen. 500 Lira für den Schulunterricht der drei Kinder, organisiert von syrischen Lehrern, werden von einer privaten Hilfsinitiative gezahlt, die ein deutsch-türkisches Ehepaar in Istanbul auf die Beine gestellt hat.

Für die türkischen Unternehmer aber sind die billigen, illegalen Arbeitskräfte ein Vorteil; Strafen für deren Beschäftigung, wie das Gesetz es vorsieht, werden kaum gezahlt. Der Mindestlohn von derzeit 1000 Lira soll zudem Anfang nächsten Jahres gleich um 30 Prozent auf 1300 Lira steigen. Es war ein Wahlversprechen der regierenden konservativ-islamischen AKP.

Die Anhebung wird in den Unternehmen Lohnforderungen von Arbeitern nach sich ziehen, die über dem Mindestlohn gezahlt wurden und diesen Abstand gewahrt sehen wollen. Die Beschäftigung von Syrern ohne Arbeitsgenehmigung macht all das noch attraktiver. Doch gleichzeitig soll die Heerschar der Flüchtlinge in der Türkei – Syrer, aber auch Iraker – nach den Vorstellungen der EU ja legalisiert und in den türkischen Arbeitsmarkt aufgenommen werden.

Warten auf das Gesetz

"Das ist eine der großen Herausforderungen", sagt Aysen Üstübici, eine Wissenschafterin am Forschungszentrum für Migration der Istanbuler Koç-Universität. Viele Vertreter in der Fachwelt und der Zivilgesellschaft erwarteten nun, dass ein Gesetzentwurf zur Legalisierung syrischer Arbeitnehmer zurück auf den Tisch komme, sagt die Migrationsforscherin.

Die AKP-Regierung hatte einen solchen Entwurf vor den ersten Parlamentswahlen im Juni dieses Jahres zurückgezogen. Türkische Arbeitsplätze müssten geschützt werden, begründete damals der zuständige Minister. Die Arbeitslosenrate in der Türkei stieg auf zehn Prozent und dürfte in Wirklichkeit höher sein; Unterbeschäftigung und Schwarzarbeit vor allem in der Landwirtschaft sind weitverbreitet.

Der große Sieg der AKP bei den vorgezogenen Neuwahlen am 1. November hat die Umstände für eine neue Flüchtlingspolitik in der Türkei verändert. "Die AKP ist jetzt voll an der Regierung", sagt Aysen Üstübici. "Wenn sie ein Gesetz zur Arbeitserlaubnis für Flüchtlinge verabschieden will, dann hat sie die politische Macht dazu." Die Frage ist natürlich: Bleiben die Syrer auch tatsächlich in der Türkei, wenn sie die Chance für einen legalen Job bekommen? Oder wollen sie nicht doch lieber weiter ihr Glück in Europa versuchen?

Plötzlich aktiv

Ein Großaufgebot an Polizei kontrolliert an einem dieser Sonntage die U-Bahn-Ausgänge in Aksaray, einem Verkehrsknoten und Einkaufsviertel im europäischen Teil von Istanbul, ein paar Stationen entfernt von der Familie Nadir. Taschen werden kontrolliert und Ausweise, man hat Angst vor Selbstmordanschlägen der Terrormiliz Islamischer Staat.

Die türkischen Behörden wollen aber auch mit einem Mal den Schleusern und Migranten einen Riegel vorschieben, die wochenlang zum großen Platz vor dem U-Bahnhof Aksaray kamen und rasch eine Überfahrt nach Griechenland aushandelten – nachts mit einem Kleinbus zur Küste und dann weiter im Boot zu einer der Inseln.

An die 3000 Flüchtlinge hat die Polizei in den Tagen nach dem EU-Türkei-Gipfel und der Zusage der Milliardenhilfe festgenommen. Sie kommen in Abschiebezentren, finanziert mit EU-Mitteln, und werden schnell wieder freigelassen.

Vater Nadir will von einer Überfahrt nach Europa nichts wissen. "Viel zu gefährlich. Wir haben unsere Kinder hierher in die Türkei in Sicherheit gebracht. Wir gehen nicht weiter."(Markus Bernath, 12.12.2015)