Leben, schlafen am Abgrund: Josef Kaiser (Peter Grimes, li.) und Andrew Foster-Williams (Balstrade).

Foto: Monika Rittershaus

Wien – Das kleine Fischerdörfchen und dessen launische Natur, die sommerlich beglückt, um hernach aufbrausend-stürmisch zu ängstigen – sie sind in Benjamin Brittens Musik so delikat wie imposant Klang geworden. Auf der Bühne im Theater an der Wien herrscht jedoch Minimalismus; gerade ein paar Stühle und ein Sofa durchbrechen die Leere. Es erinnert die Ausstattungsaskese an Lars von Triers dekorationsfreiem Streifen Dogville.

Auch darin geht es – atmosphärisch dicht – um Ausgrenzung eines Individuums, das ins offizielle Moralkorsett nicht passt. Es geht um Diffamierung von dessen Eigenheiten, um diese Person als Objekt kollektiver Aggression zu legitimieren. Wie eben in Peter Grimes, wo dem Fischer eines britischen Dorfes eine immer größer werdende Welle aus Mistrauen entgegenbraust.

Auf nebulose Art und Weise ist Grimes' Gehilfe ums Leben gekommen; Andeutungen über den Unverheirateten machen die Tuschelrunde. Dennoch entschließt sich Grimes trotzig, einen neuen Burschen zu engagieren. Er träumt von üppigem Fischfang, von "Reichtum" und folglich von verbesserter ökonomischer und sozialer Lage. Erst dann würde er den Ehehafen ansteuern.

Der bewegte Chor

Regisseur Christof Loy entledigt sich also allen naturalistischen Beiwerks, konzentriert sich auf die Figuren, auf die Dorfgemeinschaft, die zur mobilen Sozialskulptur zwischen Angst und Gehässigkeit wird. Der grandiose Schoenberg-Chor hat sich unentwegt neu zu gruppieren; die individuelle Gestaltung der Chorfiguren koppelt Loy routiniert an das Aufgehen des Einzelnen in der Massenpsyche.

Grimes Schwulsein ist für Loy ebenso Faktum wie dessen Scheitern: Als einziges optisches Rufzeichen (außer der Gesamtbühnenschräge) schwebt ein Holzbett an der Rampe (fast zur Hälfte) über den Kontrabässen.

Es ist das Bild eines eingefrorenen Sturzes; es ist vor allem die sichtbare Form jener permanenten existenziellen Grenzsituation, in der Grimes steckt (Bühne: Johannes Leiacker).

Josef Kaiser zeigt den Außenseiter (profund singend) als Zeitgenossen, in dem sich Aggression und Zärtlichkeit einen heftigen Schlagabtausch liefern. Widerstandskopf Grimes versucht dem Außendruck standzuhalten; er will nicht nachgeben, nicht fortziehen. Gleichzeitig zerreißt es ihm den Schädel: Er ist mit seinem Gehilfen John (Gieorgij Puchalski) in zärtlicher Körperspannung verbunden; er erwischt aber diesen Jungen bei einer wilden Schmuserei mit Balstrode (solide Andrew Foster-Williams). Ein bisschen viel hat dieser Grimes bei Loy auszuhalten; und es ist dann auch vor allem Kaisers intensive Darstellung eines langsam Auseinanderbrechenden, die dieses Konzept trägt und adelt. Es fesseln besonders auch die stummen, umso eindringlicher wirkenden choreografierten Momente (Thomas Wilhelm) zwischen Grimes und John – mit all ihrer angestauten Wut des Begehrens.

Es fesselt auch die musikalische Seite, die ein gutes Gesamtensemble (u. a. Hanna Schwarz, Stefan Cerny, Lukas Jakobski) verantwortet: Besonders Agneta Eichenholz (als Grimes zugetane Ellen) ragt heraus; sie meistert die Partie (bis auf Winzigkeiten) bravourös.

Formidabel auch das RSO-Wien unter Chefdirigent Cornelius Meister. Die Impulsivität des Dirigenten führt zu Momenten großer Dichte und suggestiver Direktheit des Ausdrucks. Ob Natur- oder Menschenpsyche, beides fand sich – je nach Bedarf – poetisch wie scharfkantig porträtiert. Applaus für alle. (Ljubisa Tosic, 14.12.2015)