Der 28. Parteitag der CDU fängt gut an. Als Angela Merkel in der Messe Karlsruhe ans Rednerpult tritt, stehen die Delegierten sofort auf und applaudieren minutenlang. Dabei hat die deutsche Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende noch kein Wort von sich gegeben. "Hab doch noch gar nichts gemacht hier", sagt Merkel fast verlegen und lächelt. Sie kann den Zuspruch gut gebrauchen. Seit Wochen gärt es in der Partei wegen ihrer Asylpolitik. Immer lauter war vor dem Parteitag der Ruf nach Obergrenzen geworden. Mehr als eine Million Flüchtlinge sind 2015 bereits nach Deutschland gekommen, doch Merkel weigert sich, eine Zahl zu nennen, eine Obergrenze, irgendeine Marke, an der sich die CDU-Basis festhalten könnte im Wissen: Jetzt ist Schluss.

Der Applaus ist warm und freundlich, er hält an. "Wir haben ja noch einiges vor", wiegelt Merkel sichtlich erfreut ab. Zuerst muss die Kanzlerin – Ritual bei jedem Parteitag – Gastgeschenke entgegennehmen. Diesmal ist dieses besonders originell. Der Spitzenkandidat der CDU für die Landtagswahl in Baden-Württemberg am 13. März heißt Guido Wolf. Er will den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann aus der Staatskanzlei in Stuttgart verjagen. Und er hat Merkel tatsächlich einen großen Plüschwolf mitgebracht. Merkel nimmt es gelassen und erklärt bei der Übernahme: "Ich kann damit relativ locker umgehen, weil der Wolf in Brandenburg schon zu Hause ist."

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Guido Wolf überreicht Merkel einen großen Plüschwolf.
Foto: AFP PHOTO / THOMAS KIENZLE

Dann, um zwölf Uhr mittags, beginnt Merkel ihre große Rede. Zuerst lässt sie das Jahr Revue passieren: Charlie Hebdo, Germanwings-Absturz, Griechenland-Krise, G7-Gipfel im Elmau, der Krieg in Syrien. Bald kommt sie auf die Flüchtlingsbewegung zu sprechen und erklärt noch einmal, warum sie mit Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) die Entscheidung getroffen hat, die Türen für jene, die an der österreichisch-ungarischen Grenze gestrandet waren, zu öffnen: "Deutschland und Österreich haben dann eine Entscheidung getroffen, diese Menschen ins Land zu lassen. Dies war nicht mehr und nicht weniger als ein humanitärer Imperativ." An dieser Stelle applaudieren die Delegierten lang und anhaltend.

Natürlich nimmt das Thema Flüchtlinge sehr viel Raum in Merkels Rede ein. "Europa ist von dieser Flüchtlingsbewegung im Innersten herausgefordert. Das ist eine historische Bewährungsprobe für Europa", sagt sie. Denn: "Was wir nur im Fernsehen sahen, kommt nun buchstäblich vor unsere Haustüre." Sie aber wolle, "dass Europa diese Bewährungsprobe besteht". Alles, was man in Europa mache, sei "unendlich mühsam", räumt Merkel ein und sagt auch: "Manchmal ist es zum Verrücktwerden."

Doch sie will die Delegierten bei ihrem Ehrgeiz packen und sagt: "Europa hat immer die Prüfungen bestanden." Also werde man auch diesmal "unseren Beitrag leisten". Denn es gehöre zur "Identität unseres Landes, Großes zu schaffen." Merkel erinnert an die Aufbaujahre nach dem Krieg, an die jahrzehntelange Teilung des Landes. Heute sei Deutschland geeingt und wohlhabend.

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Dem Thema Flüchtlinge räumt Merkel den meisten Raum ein.
Foto: APA/EPA/MICHAELÜKAPPELER

Auf die Flüchtlingszahlen bezogen, gibt sie zu: "Die Aufgabe ist riesig." Sie dankt sogar ihren Kritikern, die "darauf hingewiesen haben, auch ein großes starkes Land sei auf Dauer überfordert". Es sei "richtig", dass man im CDU-Vorstand um den Leitantrag "gerungen" habe.

Dann sagt Merkel jenen Satz, der die parteiinternen Kritiker beruhigen soll: "Wir werden die Zahl der Flüchtlinge spürbar reduzieren – weil das im Interesse aller ist."

Doch sie bittet um Geduld und um einen Blick ins Jahr 2040. Man stelle sich vor, in diesem Jahr würden die Menschen auf Deutschland im Jahr 2015 zurückblicken und dann feststellen, "dass wir uns nicht einmal vier Monate Zeit genommen haben und schon die Flinte ins Korn geworfen haben". Was würde man da wohl über Deutschland sagen? Merkel weiß es: "Sie haben nicht an sich geglaubt. Ihre Vorfahren hatten Jahrzehnte Geduld, und sie hatten nicht einmal vier Monate Zeit." Es gibt viel Applaus für die Kanzlerin, nicht nur an dieser Stelle. Immer wieder braust Beifall auf, Merkel selbst spricht deutlich, überzeugt, klar und kämpferisch. Einmal mehr zählt sie auf, wie sie die Flüchtlingszahlen reduzieren will: Sach- statt Geldleistungen, schnellere Abschiebungen in sichere Herkunftsländer (Westbalkan), weniger Familiennachzug, Lage der Flüchtlinge in der Türkei verbessern, besserer Schutz für die EU-Außengrenzen, Hotspots in Italien und Griechenland und europäische Solidarität bei der Verteilung der Flüchtlinge. "Ich weiß, es sind dicke Bretter, aber wir müssen diese dicken Bretter bohren", sagt Merkel.

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Mit einem Paket an Maßnahmen plant Merkel die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren.
Foto: REUTERS/Ralph Orlowski

Sie geht auch auf die Ängste der Deutschen ein: "Ich glaube, hinter der Skepsis, ob wir das schaffen, steht auch die Frage: Was wird sich alles verändern? Wann wird die Veränderung zur Belastung? Welche Wirkung hat unsere Art zu leben auf die vielen Menschen, die aus dem arabischen Raum zu uns kommen?"

Sie zitiert den deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), der in der Flüchtlingsfrage von einem "Rendezvous mit der Globalisierung" gesprochen hat. Deutschland habe sich immer über die positiven Seiten der Globalisierung gefreut: Exportweltmeisterschaft, Strahlkraft der Forschung, Reisemöglichkeit in alle Welt.

Aber, sagt Merkel, Globalisierung habe eben noch eine "andere Seite", und die sei die hohe Anzahl der Flüchtlinge, die ins Land wollen. Und sie erinnert daran: "Es kommen keine Menschenmassen, es kommen einzelne Menschen."

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Tosender Applaus nach der Rede von Angela Merkel.
Foto: AFP PHOTO / THOMAS KIENZLE

Als Merkel nach gut einer Stunde fertig ist, passt das, was nicht viele erwartet haben: Die CDU-Delegierten "flippen aus". Bravo, Standing Ovations, minutenlanger frenetischer Applaus. Die Partei feiert Merkel wie einen Popstar. Kritik? War da was?

Es liegt auch daran, dass Merkel ihren Kritikern in letzter Minute entgegengekommen ist. Noch am Sonntagabend wurde der Leitantrag für den Parteitag, die sogenannte "Karlsruher Erklärung zur Terror und Sicherheit, Flucht und Integration" vor allem auf Druck der Jungen Union und der Mittelstands-Union abgeändert. Diese hätten für das Jahr 2016 gern eine Obergrenze bei der Anzahl der Flüchtlinge darin festgeschrieben gehabt. Der Begriff "Obergrenze" taucht aber nicht auf. Doch Merkel stimmte einer etwas deutlicheren Formulierung zu, und nun heißt es im Antrag des Bundesvorstands: "Wir sind entschlossen, den Zuzug von Asylbewerbern und Flüchtlingen durch wirksame Maßnahmen spürbar zu verringern. Denn ein Andauern des aktuellen Zuzugs würde Staat und Gesellschaft, auch in einem Land wie Deutschland, auf Dauer überfordern.

Die CDU erklärt außerdem, die wegen der Flüchtlingskrise wieder eingeführten Grenzkontrollen seien "so lange unverzichtbar und gegebenenfalls zu intensivieren", bis eine strikte Kontrolle der EU-Außengrenzen gewährleistet werden könnte. Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière (CDU) schließt nicht aus, dass Deutschland künftig Flüchtlinge an der Grenze wieder zurückweisen könnte. "Der Schengenraum kann ohne Grenzkontrollen dauerhaft nicht weiterbestehen, wenn der Schutz der Außengrenzen nicht funktioniert", sagt er. Rechtlich sei dieser Schritt grundsätzlich möglich: "Politisch haben wir uns bisher jedenfalls dagegen entschieden", so de Maizière. Grundsätzlich könnten Flüchtlinge, die an der österreichisch-deutschen Grenze stehen, dort auch von den Deutschen zurückgewiesen werden, weil die Neuankömmlinge ja schon aus einem sicheren Drittstaat, nämlich Österreich, kommen. Merkel und Bundeskanzler Werner Faymann haben jedoch Anfang September vereinbart, dass dies nicht geschehen wird, da sonst Österreich überfordert wäre. (Birgit Baumann aus Karlsruhe, 14.12.2015)