In der aktuellen Diskussion wird von konservativer politischer Seite gerne die Verteidigung der Werte des "christlichen Abendlandes" eingefordert oder, in modernisierter Fassung, jene der "jüdisch-christlichen Tradition". Aus genauerer Sicht muss man allerdings feststellen, dass diese Werte keineswegs in den genannten Traditionen verwurzelt sind, sondern seitens aufklärerisch und demokratisch gesinnter Menschen mühevoll gegen diverse Traditionalisten durchgesetzt wurden. Dies betrifft die rechtliche Freiheit der Frau, ihre Bildungsmöglichkeiten, Partnerwahl und Bekleidung ebenso wie die Freiheit von geistiger Bevormundung.

Nennen wir einige Beispiele: Erst 1897 wurden Frauen erstmals zum Studium an der Universität Wien zugelassen – zunächst nur an der philosophischen Fakultät. 1900 wurde ihnen das Medizinstudium geöffnet, 1919 die juridische Fakultät. Seit 1928 durften sie evangelische Theologie studieren, aber erst seit 1945 katholische Theologie. Sehr groß ist der historische Vorsprung gegenüber den rückschrittlichsten Ländern der islamischen Welt nicht.

Speziell die katholische Kirche verfügt keineswegs über besonders bildungsfreundliche Traditionen. Dass die Lektüre der Bibel Laien verboten war, speziell jene von Übersetzungen der lateinischen Vulgata in die jeweilige Landessprache, war seit dem Mittelalter Teil der zentralistischen Politik der Päpste im Kampf gegen das "Ketzertum". Reformatorische Bewegungen kämpften immer wieder dagegen an – aber erst Luthers deutsche Bibelübersetzung brach hier den Bann.

Wo immer es ging, versuchte aber die Kirche den Zugang zur Bildung zu beschneiden und zu kontrollieren. Diese rigorose Zensurpolitik wurde etwa in den spanischen Kolonien bis ins 19. Jahrhundert recht erfolgreich gepflegt. Was man heute dem Islam vorwirft, die geringe Zahl an Büchern, die ins Arabische übersetzt werden, wäre auch den Vertretern des christlichen Abendlandes erfreulich erschienen.

Die Wiener Universität wurde 1623 auf Geheiß Kaiser Ferdinands II. im Zuge der Gegenreformation dem Jesuitenorden überantwortet. Der kämpferische Orden übernahm die Lehrstühle der humanistischen, philosophischen und theologischen Disziplinen. Erst als der aufklärerisch gesinnte Kaiser Joseph II. 1773 den Jesuitenorden aufhob, wurde der Universitätsbetrieb verstaatlicht.

"Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei" ist aber ein Satz, der erst aus den Debatten des Frankfurter Paulskirchen-Parlaments stammt und seit dem Staatsgrundgesetz von 1867 Teil der österreichischen Verfassung ist. Er wurde jedenfalls nicht mit Billigung und Förderung der Repräsentanten der jüdisch-christlichen Tradition eingeführt.

Scheitel und Tiachl

Dass in streng bibelgläubigen Kreisen des Christentums ebenso wie im orthodoxen Judentum Traditionen gepflegt werden, die den vielkritisierten Bekleidungsvorschriften islamischer Länder fatal ähneln, ist bekannt, wird aber selten thematisiert. Als Beispiel mag das Verbot, zu viel weibliches Haar zu zeigen, gelten. Wiedertäufersekten verordnen ihren weiblichen Mitgliedern ein "Tiachl", orthodoxe Jüdinnen zeigen falsches Haar statt echtem, den sogenannten Scheitel. Für Männer gilt häufig die Bartpflicht.

Austritt nicht vorgesehen

Wer aus solchen eng gefügten Gemeinschaften ausbrechen will, hat es nicht leicht. Ein Austritt ist nicht vorgesehen – aber das gilt auch für die großen Religionsgesellschaften des abrahamitischen Religionskreises. Die katholische Kirche kennt bekanntlich bis heute keinen Austritt, da eine Taufe nicht rückgängig gemacht werden kann und die Kirche sich als die Gemeinschaft der Getauften versteht. Nach der "Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zum Austritt aus der katholischen Kirche" vom 24. April 2006 wird die Erklärung des Kirchenaustritts aber als eine gegen den Glauben und die Einheit der Kirche gerichtete Straftat gewertet. Auch hier ist die Geisteshaltung nicht allzu weit von der islamischen entfernt – dort gilt, zumindest theoretisch, als Sanktion die Todesstrafe.

Geht man davon aus, dass fanatische religiöse Mobilisierung, wie wir sie heute teilweise im Islam erleben, eine Gegenmobilisierung bisher religiös indifferenter Schichten begünstigen könnte, erscheint in der Tat wertvolles kulturelles Erbe bedroht. Es handelt sich dabei aber nicht so sehr um jüdisch-christlich-abendländische Traditionen, sondern um die laizistischen Errungenschaften der letzten 250 Jahre. Diese offensiv zu verteidigen, etwa durch Forderungen nach Beschwörung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung als Voraussetzung der Verleihung der Staatsbürgerschaft, gilt heute als unangemessen, ja tabuisiert. Man sollte sich aber im Klaren sein, dass eine Verstärkung der religiös-kulturellen Konfrontationen wahrscheinlich nicht so sehr die Schäflein zurück zu den traditionellen Hirten treiben wird, sondern die gesellschaftliche Destabilisierung fördern dürfte.

Der historische Jesus hatte übrigens mit den heutigen Traditionswahrern so wenig zu tun wie der Prophet Mohammed mit dem Kopftuch – und beide dürften sich vermutlich, könnten sie sehen, was aus ihren Vorstellungen in den Händen religiöser Machtpolitiker und Pharisäer geworden ist, in Trauer abwenden. (Robert Schediwy, 14.12.2015)