Am Montag schien über Karlsruhe die Sonne. Angeblich. Wer beim CDU-Parteitag sitzt, bekommt so etwas nicht mit. Es gehört zur Dramaturgie derartiger Veranstaltungen, dass für einige Stunden nur noch diese Politblase in einer fensterlosen und ansonsten auf CDU getrimmten Messehalle existiert.

Es gibt nicht nur kein Wetter, auch andere reale Zustände sind plötzlich weit weg: Menschen, die mit nichts als ihrer Kleidung am Leib nach Deutschland wollen. Landräte, die nicht mehr wissen, wo sie diese unterbringen. Flüchtlingshelfer, die am Rande der psychischen und physischen Erschöpfung arbeiten. Die Angst, der Dreck, die Erschöpfung, die langen Warteschlangen bei der Registrierung.

In den Gremien vor und auf einem solchen Parteitag ringt man in einer absurden Parallelwelt zur Realität da draußen um Halbsätze und Begriffe wie "Obergrenzen", "Kontingente", "verringern" oder "begrenzen". In ein paar Buchstaben werden unterschiedliche Weltanschauungen deutlich. Jede Geste einer Parteichefin wird zur politischen Richtungsentscheidung.

Der Druck auf Angela Merkel war also enorm. Seit Monaten fordern ihre Kritiker, die Zahl der Flüchtlinge zu begrenzen. Irgendwo und irgendwie eine rote Linie einzuziehen, um der Überforderung, von denen die meisten Deutschen übrigens nur aus den Medien gehört haben, Herr zu werden.

"Obergrenze" heißt das Zauberwort für viele. Doch es lässt sich mit Merkels Überzeugung einfach nicht vereinbaren: Asyl kennt keine Obergrenzen, denn wie könnte man 1000 aufnehmen, dem 1001. aber das Recht auf Hilfeleistung verwehren?

Merkel ist auf dem Parteitag ein kleines Kunststück gelungen. Sie schaffte es, die Kritiker auf ihre Linie zu bringen. Obergrenzen wird es nicht geben, da bleibt sie hart. Aber es ist nun von einer "Reduzierung" die Rede. Und sie hielt eine fulminante Rede – wahrscheinlich die wichtigste und wohl die beste in ihrer Amtszeit als CDU-Chefin.

Die Rede von Angela Merkel
cdutv

Merkel zeigte sich nicht nur leidenschaftlich und kämpferisch, sie brachte auch geschickte Vergleiche ein. Der Aufbau Deutschlands nach dem Krieg und das Warten auf die Wiedervereinigung hätten Jahrzehnte gedauert. Also könnte man doch nicht erwarten, die Flüchtlingskrise in vier Monaten zu lösen. Plötzlich, vor diesem historischen Horizont, sahen die Kritiker recht klein aus. Auf einmal war der Beifall für Merkel wieder fulminant.

Sie geht gestärkt aus dem Parteitag – aber sie weiß auch: Man hat ihr nur eine Atempause verschafft. Diese resultiert nicht allein aus ihrer inhaltlichen Strahlkraft. Die Delegierten wissen, dass sie zu Kanzlerin Merkel keine Alternative haben. Auch diese personelle Aussichtslosigkeit zwingt zu Disziplin.

Zudem sind Umfragewerte von 38 Prozent für eine Partei, die seit zehn Jahren an der Regierung ist, kein so elender Zustand. Andere konservative Parteien würden dem Herrgott für solche Zustimmungsraten jeden Abend auf Knien danken.

Dennoch hat Merkel noch keinen Sieg errungen. Wenn die Flüchtlingszahlen nicht spürbar sinken – nicht nur wetterbedingt im Winter, sondern auch im Frühjahr danach -, hat sie wieder das gleiche Problem. Ihre Kritiker werden erneut lauter und lauter werden. Das ganze Spiel geht von vorn los. Aber dann kann Merkel nicht mehr darauf vertrauen, dass sie die Lage wieder mit einer Rede und ein paar neuen Worten in den Griff bekommt. (Birgit Baumann, 14.12.2015)