Henry Cole hatte viele Freunde. Jedes Jahr im Dezember wünschte sich der englische Beamte allerdings ein paar weniger. Der Grund: die vielen langen Weihnachtsbriefe, die es zu schreiben galt. Dann kam das Jahr 1843. Vor dem heiligen Fest besuchte Cole seinen Freund John Horsley.

Der Maler sollte für ihn eine Karte mit dem Text "Merry Christmas and a Happy New Year to You" kreieren. Horsley dachte sofort an ein Blatt mit drei Flügeln wie bei einem Altar. In der Mitte zeichnete er eine bürgerliche Familie, den Weihnachtsbraten auf dem Tisch, das Weinglas in der Hand. An den Seiten schenken Wohlhabende armen Familien Kleider und Spielzeug. Alles umrahmt von Efeu und Reben.

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Die erste kommerzielle Weihnachtskarte aus dem Jahr 1843 war ein Flop. Den einen war sie zu teuer, die anderen empörte die lukullische Darstellung.
Foto: Reuters

Cole war begeistert. In seiner eigenen Lithografenanstalt druckte er 1.000 der Glückwunschkarten mit der viktorianischen Christmas-Idylle, natürlich handkoloriert. Doch die erste Weihnachtskarte der Welt war zunächst ein Ladenhüter. Ein Shilling, zwölfmal so teuer wie die Briefmarke, sei kein christlicher Preis, empörten sich viele Engländer. Und überhaupt: Wie konnte ein Gruß zum heiligen Fest dem Alkohol huldigen?

Verkaufsrenner trotz E-Mail und SMS

Über 170 Jahre später sind die bunten Weihnachtskarten trotz E-Mail, SMS und allerlei Apps auf dem Smartphone immer noch ein Verkaufsrenner. Millionenfach gehen goldgelockte Engel, Weihnachtsmänner mit großen roten Geschenksäckchen und strahlende Kinderaugen über die Ladentische. "Bei den Motiven hat sich gar nicht viel verändert", weiß Gisela Krüger vom Postmuseum Frankfurt. Auf die Heilige Familie und die Krippe legten Macher und Käufer schon um die Jahrhundertwende wenig Wert. Wie einst bei Henry Cole, dem Kartenpionier.

1850 erschien in den USA die erste Karte für das Christfest in einer Zeitungsanzeige. Santa Claus war zu sehen und ein schwarzer Sklave, der den Tisch deckte. Darüber regte sich niemand auf. Ein deutscher Auswanderer machte die Weihnachtsgrüße dann zum Big Business. Der Drucker und Verleger Louis Prang produzierte 1880 in den USA bereits mehr als fünf Millionen Karten im Jahr, wenig später überschwemmten deutsche Billigimporte die USA. Die Deutschen wollten Umsatz statt Emotion. Bald war das Land zwischen Ems und Elbe Weihnachtskartenexport-Weltmeister. Nur im eigenen Land gaben sich die Deutschen noch nicht weltgewandt. Bis zur Jahrtausendwende sandten Katholiken und Protestanten Wunschblätter mit primitiv gedruckten Randornamenten und einem handschriftlichen Gruß.

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Eine von Beatrix Potter illustrierte Karte aus dem Jahr 1893.
Foto: ap/wigglesworth

Stahlhelm & Christbaum

Umso tollkühner waren die deutschen Weihnachtskartendesigner. Sie arbeiteten mit allerlei Firlefanz: Duft- und Seidenkarten, mit Metallflitter und venezianischem Tau, Gold oder Silber. Reißenden Absatz fanden Glimmerkarten. Nur die Postangestellten waren wenig begeistert. Glitzerpartikel und Leim lösten sich oft, berichtete 1901 die "Deutsche Verkehrs-Zeitung". Schreibtische und Fußböden verklebten.

Die Motive zum Fest der Liebe wechselten wie die Lage der Weltpolitik. In Friedenszeiten spielten Kinder im Schnee, kuschelten Familien und lachten Weihnachtsmänner. Im Krieg trugen Engel Stahlhelme, und Soldaten saßen mit dem Gewehr in der Hand unter dem Weihnachtsbaum. Nach 1933 rückte das christliche Fest noch mehr in den Hintergrund. Den "völkischen Charakter" des Festes demonstrierten Kerzen auf Hakenkreuz-Kranz, Hakenkreuze als Kerzenhalter und Runen-Kugeln als Baumschmuck, auch auf den seligen Karten.

Nach dem letzten Kanonendonner prangten im westdeutschen Wirtschaftswunder schnell Neureiche auf Wohlstandsreise und im Luxuspelz auf den Grüßen zur Geschenkorgie. Nach 1968 und der Studentenrevolte gab es sogar Karikaturen wie etwa Hunde in Engelskleidern. Oft blieb das Schreiben eine gesellschaftliche Pflicht, eine lästige zudem. Obwohl schon 1883 die "Times" wusste, dass die Postkarte auch eine Möglichkeit war, endlich den Familienzoff beizulegen, den Nachbarn wieder milde zu stimmen und sich für den letzten Fauxpas beim Erntedankfest zu entschuldigen.

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Eine Weihnachtskarte des britischen Königs George VI. aus dem Jahr 1945.
Foto: reuters/plunkett

Schreibwütig

Psychologen deuten die heilige Schreiberei auch als Statusangelegenheit, wobei berufliche Überflieger oder Möchtegern-Wichtige Grüße seltener erwidern als andere, wie Forscher vom University College London klarstellen. Von einer Kartenvariante raten die Londoner Psychologie-Honoratioren übrigens strikt ab, die mit dem musikalischen, nervigen Mikrochip. "Brechen Sie alle Beziehungen zu Menschen ab, die solche Karten senden", so ihre rigorose Forderung.

Die berühmteste Weihnachtskarten-Ladenbudel steht übrigens im österreichischen Unterhimmel. Seit 1950 sammeln sich in diesem Stadtteil von Steyr Wünsche und Sehnsüchte aus allen Erdteilen im Postamt Christkindl. Mehr als ein Dutzend Frauen und Männer legen den ganzen Tag den Sonderstempel nicht aus der Hand, um circa zwei Millionen Sendungen ordnungsgemäß zu bedrucken. Ob Werner Erhard aus San Francisco einst eine Karte an die himmlische Poststelle in Österreich schickte, ist nicht klar. Aber der Mann gilt bis heute als der schreibwütigste Weihnachtskartenversender. Zum Fest 1975 sandte er 62.864 Grüße.

Von Coles Premierenkarte aus dem Jahre 1843 gibt es heute noch zwölf Exemplare. Ein anonymer Käufer bezahlte am 24. November 2001 bei einer Auktion im englischen Devizes 30.620 Euro für eine dieser antiken Exemplare, die wohl wertvollste Weihnachtskarte der Welt.

Doch zurück in die Zukunft: Vor kurzem durfte man lesen, dass die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) feststellte, dass der Markt für Füllfedern im vergangenen Jahr um neun Prozent wuchs. Dies dürfte all jene ruhig stimmen, die sich Sorgen um die Zukunft des Weihnachtsgrußes aus echtem Papier machen. (Oliver Zelt, RONDO, 21.12.2015)