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Die Enttäuschung bei den Wählern war groß. Man hätte sich mehr erwartet, nachdem der FN als stärkste Partei aus dem ersten Wahlgang hervorgegangen war.

Foto: apa/epa/clement mahoudeau

Die sich anbahnende Umwälzung in der französischen Polit-Landschaft hat am Ende doch nicht stattgefunden. Der Front National unter Marine Le Pen siegte bei den Stichwahlen am vergangenen Wochenende in keiner Region und geht damit bei den französischen Regionalwahlen endgültig leer aus.

Beruhigt zurücklehnen können sich die Sozialisten und Konservativen deshalb aber nicht, denn die staats-, sozial- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen bleiben immens und angesichts der 2017 stattfindenden Präsidentenwahl stehen ihnen auch noch Führungsdebatten und kräftezehrende Grabenkämpfe ins Haus. Eine Ausgangssituation also, die ganz nach dem Geschmack der radikalen Rechten sein dürfte.

User fragen, die Redaktion antwortet

Stefan Brändle, Frankreich-Korrespondent des STANDARD, beantwortet hier wie schon nach dem ersten Wahlgang die Fragen der Userinnen und User zu den Konsequenzen der Regionalwahlen und der Entwicklung, die auf die Franzosen – Bürger wie Politiker – zukommt.

User Verbal Kint interessiert sich für den auf den ersten Blick nicht ganz eindeutigen Wahlmodus bei den Regionalwahlen in Frankreich:

Stefan Brändle: Sie haben recht, es ist keine eigentliche Mehrheitswahl mit einem Stichwahl-Duell. Auf der französischen Regionalebene gelangt eine Partei in die Finalrunde, wenn sie im ersten Durchgang mehr als zehn Prozent Stimmen erzielt hat. Das trifft oft auf drei, vier oder fünf Parteien zu, zwei sind hingegen sehr selten. Bei diesen Wahlen war das zwar im Norden und in Südfrankreich der Fall, wo Marine Le Pen beziehungsweise Marion Maréchal-Le Pen gegen je einen konservativen Kandidaten antraten. Aber das geschah nur, weil sich die sozialistischen Kandidaten nach dem ersten Wahlgang zurückgezogen hatten, um einen Sieg des Front National (FN) zu verhindern.

Die Besonderheit des Regionalwahlsystems liegt nicht nur in der Zehn-Prozent-Hürde, sondern auch in einem "Bonus" für die bestplatzierte Partei des zweiten Durchgangs: Die siegreiche Formation erhält zusätzlich zu ihrer proportionalen Sitzzahl ein Viertel der Sitze zugesprochen. Das verschafft ihr im Normalfall die absolute Mehrheit.

Wenn die Sitzverteilung einmal feststeht, wählt der Regionalrat seinen Präsidenten. Das wird in Frankreich meist Ende der Woche der Fall sein. Die Regionalpräsidenten leiten übrigens den parlamentarischen Rat wie auch den Exekutivausschuss.

Wie es mit dem konservativen Kandidaten aussieht, möchte User Getz wissen. Denn natürlich passiert in letzter Zeit kaum etwas, ohne dass zumindest mit einem Auge auf die 2017 anstehende Präsidentenwahl geblickt wird:

Stefan Brändle: Einigkeit und französische Konservative sind zwei Begriffe, die einander nicht mögen. Die Konservativen folgen spätestens seit de Gaulle dem Chefprinzip, und ihre Partei ist in erster Linie eine Wahlmaschine im Dienste des Vorsitzenden. Und da sich seit dem Ende der De-Gaulle-Ära so ziemlich jeder französische Konservative berufen fühlt, das Erbe des Urvaters weiterzuführen, ist das Gerangel an der Parteispitze groß.

Auch unter Parteichef Sarkozy. Der Ex-Präsident will 2017 Revanche für seine Abwahl 2012 nehmen, muss sich aber im kommenden Jahr einer internen Primärwahl stellen. Sarkozy ist auch intern umstritten, nachdem er selbst in den Augen seiner Parteifreunde eine sehr mäßige Präsidentschaft von 2007 bis 2012 hingelegt hat. Sein gefährlichster Widersacher ist Alain Juppé, ein Gaullist alter Schule.

Schwer zu sagen, wer sich durchsetzen wird. Umfragen sehen Sarkozy eher bei der Primärwahl vorne, Juppé hingegen bei der Präsidentenwahl. Das kompliziert die Dinge beträchtlich. Sarkozys Schritt-für-Schritt-Taktik, Juppé in der Primärwahl und dann Hollande oder Le Pen in der Präsidentenwahl zu besiegen, kann aufgehen. Aber Juppé hätte zum Beispiel gegen Hollande bessere Chancen.

Wichtig ist der Faktor Zeit. Sarkozy hat einen harten Kern von Anhängern in der Partei, aber der ist am Schrumpfen. Andererseits ist Juppé bereits 70. Also ein dritter Mann? Ex-Premier François Fillon gibt sich neuerdings als Hardliner, doch ihm geht der Killerinstinkt ab, der gegenüber Sarkozy unerlässlich ist. Bruno Le Maire gibt sich gerne als Erneuer, auch wenn er wie ein Technokrat der Pariser Eliteschulen wirkt; außerdem hat er – was in Frankreich wichtig ist – noch zu wenig Patina angesetzt, um die hehre präsidiale Funktion auszufüllen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt, wo alle nach echten Machern rufen, um die echten Probleme (Le Pen, Terrorbedrohung, Wirtschaftskrise, Systemkrise et cetera) anzupacken, dürfte Le Maire ein Wörtchen mitreden.

Nur eine Prognose würde ich wagen: In Frankreich wird die Primärwahl der Reps vorentscheidender sein als diejenige in den USA.

Es wäre eigentlich alles "perfekt", um eine hohe Wahlbeteiligung zu erzielen, findet Pracesi. Die Franzosen sehen das jedoch etwas anders:

Stefan Brändle: Auf die Gefahr hin, Sie zu enttäuschen, darauf gibt es keine einfache Antwort. Denn in diesem Wählerverhalten drückt sich meines Erachtens die gesamte Komplexität des Problemfalls Frankreich aus. Indolenz, Resignation – man könnte anfügen: Fatalismus, Müdigkeit und Verunsicherung nach einem harten Jahr, das, wie man sich erinnert, mit den "Charlie"-Anschlägen begonnen hat. Dazu auch Politverdrossenheit und eine Prise Nonchalance.

Ihre Frage betrifft nicht die konsequenten und politisierten FN-Gegner, die aus Prinzip abstimmen gehen, und auch nicht jene Wähler (27 Prozent), die "FN" einlegen. Die Frage betrifft das Gros der Wähler dazwischen, jene, die am Sonntag fischen und Pétanque spielen gehen und die Pariser Politik sehr weit entfernt und wie ein Bühnenspektakel erleben. Das ist auch eine Folge des zentralisierten und wahlmonarchischen Systems dieses immensen Landes. Über wichtigste Themen wie Atomkurs, Syrien-Einsatz, Ausnahmezustand oder jetzt die FN-Gegenstrategie (dazu weiter unten) entscheidet der Präsident im Elysée-Palast weitgehend allein. Der mitdenkende, partizipative Bürger ist nicht oder nur zum Schein gefragt; in Wahrheit stört er die Pariser Machtspiele. Aus dieser Distanziertheit, dieser institutionalisierten Ohnmacht resultiert ein verbreitetes Gefühl im Land draußen, dass es "schon recht" sei, wenn ein Drache wie Marine Le Pen den Pariser Eliten ein wenig einheizt.

Das meine ich mit Politverdrossenheit. Und auch mit Nonchalance. Denn wenn es brenzlig wird, wenn die eigene Region in der Stichwahl wirklich in die Hände der Frontisten zu gelangen droht – dann wachen die Provinzbürger wieder auf. Dann gehen sie nach ihrem Sonntagsschmaus ernsthaft wählen, weil sie Le Pen nur als Abschreckmittel, aber nicht als Regionalpräsidentin wollen. Das passierte auch am Sonntag, als die Wahlbeteiligung gegenüber dem ersten Wahlgang um fast zehn Prozentpunkte hochschoss. Das war auch 2002 passiert, als Jean-Marie Le Pen sensationell in die Stichwahl vordrang: Da suchten viele Jugendliche und sogar Senioren erstmals überhaupt ein Wahllokal auf, um für den guten alten Chirac einzulegen.

Ein letzter Gedanke noch zu Ihrer Frage: Auch in der Politik gilt, dass man sich an alles gewöhnt. In Österreich wählt man FPÖ, in der Schweiz SVP et cetera, ohne etwas daran zu finden. In Paris hingegen glaubte man nach Haiders Regierungseintritt, Hitler komme nach Wien zurück. Was ich damit sagen will: Für viele Franzosen wirkt der FN weniger exotisch, auch weniger angstmachend, weniger extrem als die FPÖ. Und umgekehrt. Das liegt zum Teil in der Natur der Sache, hat auch mit nationaler Mentalität und nationalem System zu tun. Bis zu einem gewissen Grad ist Le Pen ja auch ein Produkt dieses Systems.

Nur damit kein Missverständnis entsteht: Mit diesen Ausführungen will ich den FN und seinen Camembert-Faschismus (wie mal jemand sagte) keineswegs verharmlosen.

User 00039 interessiert sich für etwaige gemeinsame Strategien der Großparteien, um einen Erfolg der Rechten zu verhindern:

Stefan Brändle: Da bin ich pessimistisch. Die beiden Großparteien haben sich eigentlich nicht einmal beim Verhindern des FN einig gezeigt. Die Sozialisten hielten sich zwar an eine "republikanische Front", die Republikaner lehnten sie aber ab.

Auch darüber hinaus sehe ich ein Zusammenwirken der großen Parteien und ihrer Spitzen kaum. Aus zwei Gründen: Erstens kalkulieren sie nicht mit einem Sieg Le Pens. Die FN-Chefin bräuchte dafür im ersten Präsidentschaftswahlgang etwa zehn Millionen Stimmen, im zweiten etwa 18 Millionen. Bei den Wahlen seit 2012 betrug ihr Stimmenpotenzial aber "nur" rund sechs bis sieben Millionen. Das ist schon sehr viel, das ist Rekord – aber nicht genug, um Präsidentin zu werden. Und deshalb nicht genug, um Sozialisten und Republikaner wirklich zu beunruhigen und in eine Kooperation zu zwingen.

Der zweite Grund ist systembedingt. Über den Rechts-links-Graben hinweg bespricht man sich in Paris nicht. (Die einzige Ausnahme ist, wenn der Staatspräsident alle Parteichefs zu Gesprächen empfängt; aber da er über der Politik stehen und für alle Franzosen da sein sollte, kann er nicht gut eine Strategie gegen eine 28-Prozent-Partei aufzäunen.) Und wie bereits gesagt, regiert in der französischen Politik das Chefprinzip über jede kollektive Demarche (außer vielleicht bei den Kommunisten und den Grünen). Das Verhalten der Republikaner und Sozialisten gegenüber dem FN in der Regionalstichwahl wurde nicht etwa parteidemokratisch beschlossen; es wurde von oben, das heißt von Sarkozy und Hollande allein festgelegt und dann von den Parteioberen bis an die Basis verbreitet. All das einzig in ihrem persönlichen Interesse, präziser: ihrem Präsidentenwahlinteresse. Sarkozy schielt auf die FN-Wähler und will sie deshalb nicht ausgrenzen, Hollande braucht nach seinem martialischen Antiterrorkurs die Unterstützung des linken Sozialistenflügels und verteidigt sich mit seinem "moralischen Verzicht" in drei Regionen gegen den Vorwurf, er fördere insgeheim – wie einst Mitterrand – den FN, um die Republikaner zu schwächen.

Gemäßigte Republikaner wie Jean-Pierre Raffarin, die für eine Kooperation mit der Linksregierung plädieren, gibt es zwar, aber sie bleiben minoritär. Oder sie werden weggesäubert wie Raffarins Gesinnungspartnerin Nathalie Kosciusko-Morizet, die ihr einstiger Mentor Sarkozy nun aus der Parteileitung werfen will.

Möglich wären vielleicht punktuelle Initiativen wie zum Beispiel eine parteiübergreifende (ohne FN) Charta für den Umgang mit dem Thema Migration. Aber auch dabei gilt: Sobald es konkret wird, sobald partei- oder personalpolitische Interessen ins Spiel kommen, erleidet die Strategie Schiffbruch. Die politische Zersetzungswirkung des FN muss schon noch fortschreiten, bevor die anderen Parteien kollektiv reagieren. (brä, ugc, 15.12.2015)