"Ein großer Tag für das europäische Serbien", titelte die serbische Tageszeitung "Blic" am Dienstag. In einer entsprechend feierlichen Stimmung war auch Ministerpräsident Aleksandar Vučić, als Serbien am Tag zuvor in Brüssel – fast zwei Jahre nach dem Beginn der Beitrittsverhandlungen – die ersten Kapitel öffnete: "Das ist für uns ein großer und bedeutender Tag, einer jener Tage, an denen Geschichte geschrieben wird und wir nicht länger von der Europäischen Union träumen, sondern von nun an hart arbeiten müssen, bis wir Teil der großen europäischen Völkerfamilie werden."

Vučić bedankte sich besonders für die Unterstützung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und äußerte die Hoffnung, dass Serbien 2019 bereit für den EU-Beitritt sein werde.

Trotz der entzückten Reaktionen serbischer Regierungsvertreter und EU-Politiker ist von einer europäischen Aufbruchstimmung in Serbien nichts zu spüren: Zu sehr drücken die wirtschaftliche und soziale Misere, zu lange befindet sich das Land in einer Dauerkrise, zu oft haben serbische Politiker feierliche Versprechen in Bezug auf die EU nicht eingehalten.

Putin beliebter als Vučić

Laut jüngsten Umfragen des Portals NSPM sind 46,8 Prozent der Serben für und 41,5 Prozent gegen einen EU-Beitritt; für einen Bund mit Russland sind 68,2 Prozent, während von allen ausländischen Politikern der russische Präsident Wladimir Putin mit 36,1 Prozent das größte Vertrauen genießt. Die von Regierungschef Vučić so hoch gepriesene Angela Merkel landete mit nur 7,3 Prozent an zweiter Stelle. Vučić selbst hat eine Unterstützung von mehr als 45 Prozent.

Von insgesamt 35 Verhandlungskapiteln eröffnete Serbien am Montag Kapitel 32 zur Finanzkontrolle und Kapitel 35, das die Normalisierung der Beziehungen zur ehemaligen serbischen Provinz Kosovo abdeckt. Besonders Kapitel 35 ist in Serbien umstritten: Dort steht, dass die EU-Kommission jederzeit die gesamten Beitrittsverhandlungen auf Eis legen kann, falls im Normalisierungsprozess zwischen Serbien und dem Kosovo keine Fortschritte erzielt werden.

Es wird nicht präzisiert, was unter "Normalisierung" verstanden wird. Während die einen meinen, dass Serbien ohne eine formale Anerkennung des Kosovo nicht EU-Mitglied wird sein können, beharrt Vučić darauf, dass das von Serbien im Beitrittsprozess keineswegs gefordert werde. Die serbische Verfassung definiert den Kosovo als einen Bestandteil Serbiens.

Neben den üblichen Schwierigkeiten bei der Eröffnung und Schließung einzelner Kapitel lasten auf Serbien zusätzlich die engen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland. Vučić zufolge sollte Serbien bis 2017 seine Außenpolitik in Einklang mit der EU bringen. Bisher weigerte sich Serbien trotz Drucks aus Brüssel, sich dem Wirtschaftsembargo gegen Russland anzuschließen. (Andrej Ivanji aus Belgrad, 15.12.2015)