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Türkische Küstenwache im Flüchtlingseinsatz: Der Türkei kommt bei den Plänen für die Verlangsamung der Fluchtbewegungen in die EU eine zentrale Rolle zu.

Foto: Reuters / Umit Bektas

Ein Zusammentreffen einzelner Regierungschefs vor einem regulären EU-Gipfel ist an sich nichts Besonderes. Nicht nur auf Parteiebenen, sondern auch in regionalen Gruppen kommt das immer wieder vor, etwa um spezifische Absprachen zu treffen, bevor alle 28 Chefs der Mitgliedsländer sich dann mit den Präsidenten des Europäischen Rats, der EU-Kommission und des Parlaments zusammensetzen.

An diesem Donnerstag wird das zum Auftakt des zweitägigen Gipfels in Brüssel aber – insbesondere aus österreichischer Sicht – doch etwas anders sein. Weil man im Jahr 2015 trotz fünf eigens dem Thema Flüchtlingskrise gewidmeter Räte praktisch kaum weitergekommen ist, um den enormen illegalen Zustrom an Migranten und Flüchtlingen einzudämmen, werden sich die Vertreter von zehn EU-Ländern gemeinsam mit Kommissionschef Jean-Claude Juncker und dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu um elf Uhr bei einem Extragipfel versammeln.

Ort des Geschehens: die Ständige Vertretung Österreichs bei der EU, unweit des EU-Ratsgebäudes. Einziges Thema: Wie kann im Jahr 2016 verhindert werden, dass erneut mehr als 1,6 Millionen Illegale über das Mittelmeer nach Europa kommen, so wie 2015?

Gruppe von Kernstaaten

Was können die Union und zumindest eine Gruppe von "Kernstaaten" (Nettozahler, Hauptbetroffene, Gründungsmitglieder) der EU tun, wenn die EU-28 als Ganzes dabei nicht vom Fleck kommt, weil Einzelne (vor allem aus Osteuropa) blockieren? Ein Beispiel: Vor zwei Monaten wurde beschlossen, dass alle EU-Staaten nach einem von der Kommission vorgegebenen Schlüssel 160.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland aufnehmen. Verteilt wurden bisher exakt 178.

Gastgeber dieses heiklen, in keinem Vertrag oder Protokoll vorgesehenen Extragipfels ist der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann. Man trifft sich auf österreichischem Boden in Brüssel, um Irritationen mit den EU-Institutionen bzw. jenen Staaten zu vermeiden, die an der Flüchtlingskrise kaum Interesse haben.

"Es geht darum, dass endlich konkret gehandelt wird, dass ein Bündel von Maßnahmen rasch umgesetzt wird", erklärt ein Diplomat den Sinn des Unterfangens. Das betrifft den vor zwei Wochen vereinbarten Pakt EU/Türkei ebenso wie den jüngsten Kommissionsvorschlag zur effizienteren Sicherung der Außengrenzen mittels einer eigenen EU-Grenzschutztruppe. So will die EU der Türkei drei Milliarden Euro zahlen, wenn sie Flüchtlinge im eigenen Land besser versorgt, etwa Kindern Schulbesuch ermöglicht.

Den Anstoß gab beim EU-Türkei-Gipfel Deutschland, das mit mehr als einer Million Flüchtlingen die Hauptlast trägt. Kanzlerin Angela Merkel bat Faymann, ein Treffen der "willigen Staaten" zu organisieren, um die Blockaden zu umgehen. Als Sozialdemokrat aus einem kleinen neutralen Land, einer der längstdienenden Regierungschefs (seit 2008), der sich mit Juncker gut versteht, erschien er als idealer Vermittler.

50.000 Flüchtlinge direkt aus der Türkei

Neben Merkel sind nun auch die Regierungschefs der drei Beneluxstaaten, Schwedens, Finnlands, Griechenlands und der Türkei dabei. Frankreichs Staatspräsident François Hollande sagte zu, dürfte sich aus Termingründen jedoch von einem Regierungsmitglied vertreten lassen. Am Abend sagten auch noch die Regierungschefs von Portugal und Slowenien ihr Kommen zu.

Im Vorfeld hielt man sich mit inhaltlichen Festlegungen, was das Treffen und der anschließende Gipfel konkret bringen sollen, zurück. Faymann bestätigte, dass es Gespräche darüber gebe, dass die willigen Staaten in einem ersten Schritt bis zu 50.000 Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufnehmen könnten. Dies werde aber nur dann geschehen, wenn die Zahl der illegalen Grenzübertritte deutlicher abnehme, es müssten 2016 weniger Flüchtlinge nach Europa kommen. Ganz generell kann sich die Staatengruppe vorstellen, dass man über das ganze Jahr 2016 verteilt bis zu 500.000 Flüchtlinge aufnimmt. Offiziell bestätigt wird das aber nicht. Von allen Seiten bekräftigt wurde aber, dass die Stärkung der Grenzschutzbehörde Frontex, der Schutz der EU-Außengrenze oberstes Ziel sei.

Sonderregeln für London

Das zweite große Thema des Gipfels werden die Wünsche Großbritanniens nach einer EU-Reform sein, die Kompetenzen zum Teil wieder in die Mitgliedstaaten verschiebt. Premierminister David Cameron will 2016 ein Referendum abhalten, ob sein Land in der Union bleibt oder austritt. Ein konkretes Ergebnis ist beim Gipfel aber nicht zu erwarten. Erst im Februar soll es eine Entscheidung geben, mit Sonderregeln für London. (Thomas Mayer, 16.12.2015)