Leo Kandl interessieren Stadtlandschaften und Peripherien. Die Anonymität der Orte und die "Atmosphäre des Übersehenen" regten ihn auch zu seinen Bildrecherchen in Moldau und der Ukraine an. Hier: "Kiew" (2003).

Foto: Leo Kandl / Museum der Moderne Salzburg

Weinhaus Höller im 8. Bezirk, um 1980.

Leo Kandl/Museum der Moderne Salzburg
Leo Kandl/Museum der Moderne Salzburg

Salzburg – Sie erzählen von den Nachtschattengewächsen der Großstadt und erlauben intime Einblicke in die Kehrseite der bürgerlichen Gesellschaft: Leo Kandls Fotografien aus dem Werkzyklus Weinhaus Höller (Wien, VIII. Bezirk, 1979–1981) sind gleichermaßen Milieustudien wie Zeitzeugnisse.

Für seine Fotoserie der Spelunken, Bahnhofbuffets und Stehweinhallen an der Peripherie der Stadt wurde Kandl selbst zum Nachtschwärmer, der sich mit dem Treibgut der Nacht anfreundete und so die Lizenz zum Knipsen bekam. Heute mag ein Hauch von grindiger Nostalgie die Fotos mit den kargen Interieurs, den einfachen Holztischen und Holzstühlen überziehen.

Im Mittelpunkt stehen Tschecheranten mit Tschick im Mund, Bierflasche oder Weinglas in der Hand, die an verlorene Gestalten aus Charles-Bukowski-Geschichten oder die Protagonisten in Joseph Roths Erzählung Die Legende vom heiligen Trinker denken lassen. Kandls offenkundige Sympathien für die (Selbst-)Darsteller garantiert, dass sein Blick nie sozialvoyeuristisch ist.

Christ des Alltäglichen

Prominent vertreten sind diese Arbeiten in Leo Kandls Werkschau Menschen und Orte. Fotografien aus 40 Jahren im Salzburger Museum der Moderne – Rupertinum. Eine Retrospektive, die dem Wiener Chronisten des alltäglichen Lebens, der alltäglichen Menschen und Orte anlässlich der Auszeichnung mit dem Otto-Breicha-Preis für Fotokunst gewidmet ist: Gut 100 Exponate repräsentieren alle Schaffensperioden des 1944 in Mistelbach geborenen Künstlers. Im Zentrum steht Kandls Blick auf die Menschen – von den gesellschaftlichen Randgruppen über Passanten auf den Flaniermeilen bis zu den Reichen und Schönen bei den Salzburger Festspielen.

Nachdem Kandl an der Akademie der bildenden Künste in Wien studiert hatte, begann er sich in den frühen 1970ern für Fotografie zu interessieren. Dass er schon damals die einfachen Leute im Fokus hatte, zeigen seine Schwarz-Weiß-Bilder, die 1975 am Wiener Naschmarkt entstanden. Der war seinerzeit bei weitem nicht so mondän und hip wie heute.

Parade der Eitelkeiten

Mit unter der Jacke versteckter Kamera fängt Kandl zwischen 1980 und 1982 die Besucher der Festspiele ein, lichtet in Salzburg und seine Gäste die Parade der Eitelkeiten ab. Die Melancholie des Augenblicks bleibt bei den einfachen Tranklern aber viel eher spürbar als bei diesem Defilee der Oberschicht.

Später holte Kandl Passanten auf der Straße vor die Kamera, vor allem Menschen auf Bahnhöfen. Es sind quasi Vorstufen zu späteren Bildserien, die dem intensiven Dialog und persönlichen Kontakt mit seinen Modellen, der Interaktion als Vorbereitung der Fotosessions – in der Schau mittels Stadtplänen, Notizbüchern, Zetteln und Schriftverkehr ausführlich dokumentiert – ihren speziellen Reiz verdanken.

In den letzten Jahren hat Kandl diese Free Portraits genau wie die Orte der Menschen mit seiner Kamera vermessen. Intimität kann ohne Respekt nicht funktionieren. Und das beweisen diese Arbeiten, deren soziale Relevanz nicht nur deshalb unbestreitbar ist. (Gerhard Dorfi, 18.12.2015)