Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: AP/Ahn Young-joon

Es hat mehrere Monate gedauert, bis Jinah Kim die unausgesprochenen Büroregeln ihres neuen Arbeitgebers durchschaut hat. Am wichtigsten sei es, sagt die 26-Jährige, stets möglichst beschäftigt zu wirken. "Wann immer ich an den Schreibtischen der Kollegen vorbeigegangen bin, haben sie dann verschämt die offenen Fenster weggeklickt – Shoppingseiten oder koreanische Seifenopern", erinnert sich Kim: "Irgendwann habe ich gemerkt: Das macht hier anscheinend jeder so." Und aus gutem Grund: Es gebe schlicht keinen Anreiz, möglichst früh fertig zu werden, denn vor dem Chef das Büro zu verlassen traue sich ohnehin niemand. Also bleiben die Kollegen weiter beschäftigt – bis in die Abendstunden.

Widersprüche und Extreme

Die koreanische Arbeitskultur steckt voller Widersprüche und Extreme: Bei den Arbeitszeiten zum Beispiel kann im OECD-Vergleich nur mehr Mexiko mithalten. Koreaner haben 2014 ganze 500 Stunden länger gearbeitet als der durchschnittliche Österreicher. Gleichzeitig liegt die Produktivität statistisch gesehen nur im unteren Drittel, und Korruption ist weiter verbreitet als anderswo.

Die Firma gilt in der konfuzianisch geprägten Gesellschaft als Familienersatz: Chefs verhalten sich wie Vaterfiguren, manchmal zornig oder großzügig, aber stets unanfechtbar. Die hierarchische Arbeitskultur wurde einst maßgeblich von den japanischen Kolonialherren während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt und später von den autokratischen Regierungen der 1960er- und 1970er-Jahre perfektioniert.

Damals entwickelten sich die koreanischen Konglomerate, allen voran Samsung, zu den Flaggschiffen der Wirtschaft. Heute erwirtschaften die zehn größten Firmen des Landes bis zu 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – sie werden von den Familiendynastien eher wie Militärregimente denn wie globale Unternehmen geführt.

Geschichte eines Aussteigers

Als Eric Surdej 2003 bei LG Electronics anfing und dort bald die Leitung für den französischen Markt übernahm, zählte er zum höchstgedienten Ausländer im Traditionsunternehmen. Rückblickend bezeichnet er die zehn Jahre dort als "die mit Abstand bizarrste Erfahrung" seines Berufslebens. Die jüngst in Buchform erschienene Aussteigergeschichte betitelte er dementsprechend: Die spinnen, die Koreaner.

Es sind absurde Anekdoten, die der 59-Jährige darin zum Besten gibt: Als sich etwa einer der Vorstände für einen Besuch in der Paris-Filiale ankündigte, mussten Surdejs Mitarbeiter nahegelegene Elektronikgeschäfte anweisen, alle Produkte der Konkurrenz aus den Auslagen zu entfernen. Ein Kollege wagte es, ungefragt einen Schnappschuss vom koreanischen CEO zu schießen – und wurde am nächsten Tag gefeuert.

Die Feierabendpartys hätten geradezu sektiererische Züge angenommen, die Arbeitstage mindestens zwölf Stunden gedauert und die Manager eine geradezu manische Obsession entwickelt, die japanische Konkurrenz auszustechen. "Ich konnte nicht begreifen, wie eine Firma mit einem solch soliden wirtschaftlichen Fundament seinen Angestellten so viel Stress zufügen kann", schreibt Surdej. Die Effizienz ist brutal: Allein während seiner Zeit bei LG hätten sich dessen Umsätze auf dem französischen Markt versiebenfacht.

Die festzementierte Decke

Lange Zeit tauschte Südkoreas Jugend bei den Konglomeraten nur allzu gerne 70-Stunden-Wochen gegen soziales Ansehen und satte Gehaltsschecks ein. Eine Samsung-Einstellung gilt viel.

Doch unter den Uni-Absolventen regt sich Widerstand. Sie fordern Work-Life-Balance, flachere Hierarchien und vor allem fairere Chancen für Frauen. Bislang haben Frauen nicht mit einer gläsernen, sondern mit einer festzementierten Decke zu kämpfen: Sie verdienen über ein Drittel weniger als männliche Kollegen – auch das ist OECD-Rekord. Es überrascht also nicht, dass letztes Jahr Samsung erstmalig von der Fluggesellschaft Korean Air als Wunscharbeitgeber abgelöst wurde.

Da Südkorea unter den großen Volkswirtschaften die niedrigste Geburtenrate aufweist, werden die Konglomerate ihre Arbeitsatmosphäre bald attraktiver gestalten müssen. Bei Hyunday Capital spiegelt sich das bereits in einem neuen Handbuch wider: Demnach würden die Abteilungen, die am längsten im Büro arbeiten würden, nun firmenintern vorgemerkt – als Schelte, nicht effizient genug zu arbeiten. Und Chefs, deren Untergebene nicht alle Urlaubstage ausschöpfen, bekommen ihre Prämien gekürzt. (Fabian Kretschmer aus Seoul, 6.1.2015)