Der Augenblick, der alles verändert: Madeleine Thien.

Privat

Madeleine Thiens Kambodscha-Roman "Flüchtige Seelen"

In der Sprache der Hilfsorganisationen war ich eine Minderjährige ohne Begleitung, ein Flüchtlingskind", erinnert sich Janie, die Ich-Erzählerin in Madeleine Thiens (41) vielbeachtetem Roman Flüchtige Seelen (Luchterhand). In der erzählten kanadischen Gegenwart des Buches ist aus dem Flüchtlingskind von damals eine 44-jährige Neurowissenschafterin geworden, die, ausgelöst durch das Verschwinden eines Freundes, zur intensiven Befragung ihrer eigenen Biografie gezwungen wird.

Der Roman berichtet vom beispiellosen Genozid, den die Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 an ihren kambodschanischen Landsleuten verübten, und geht der Frage nach, was das eigene Überleben bedeutet, wenn es sich dem Zufall zu verdanken scheint.

Standard: Sie sind als Kind malaiisch-chinesischer Eltern in Kanada zur Welt gekommen, haben also selbst keine familiären Verbindungen nach Kambodscha. Haben Sie sich trotzdem oder gerade deshalb an so ein heikles Thema gewagt?

Thien: Weder noch. Ich hatte lange Zeit große Skrupel, über Kambodscha zu schreiben. Es war schwierig in viele Richtungen. So ein Text muss ja bestehen können, nicht nur vor einer westlichen Leserschaft, sondern auch vor den Menschen, die nach wie vor dort leben. Zudem wissen viele Leute so gut wie nichts mehr über den Vietnam- und Kambodschakrieg, geschweige denn über den Terror der Roten Khmer. Ich habe viel Zeit in Südostasien verbracht, und Kambodscha ist der Ort, an den es mich immer wieder hingezogen hat. Warum das so ist, kann ich schwer sagen. Ich habe mich dort am meisten zu Hause gefühlt, aber gleichzeitig hatte ich auch eine riesige Angst davor, meinen Finger auf diese Wunde zu legen. Vieles ist nicht aufgearbeitet. Es hat mich sehr bewegt, die Menschen in diesen ungelösten Zuständen zu erleben, und etwas daran war mir auf seltsame Weise sofort vertraut.

Standard: Können Sie das benennen?

Thien: Es hat etwas mit Trugbildern zu tun, der friedlichen Oberfläche, unter der sich etwas Bedrohliches verbirgt – und dem Gefühl, dass eine Stimmung jeden Augenblick kippen kann. Das hat mich nicht mehr losgelassen.

Standard: Ist Schreiben denn ein geeignetes Mittel, um sich von etwas zu lösen?

Thien: Nein, aber es ist eine Möglichkeit, Dinge, die uns beschäftigen, in einer Konsequenz durchzudenken, wie es anders schwer möglich ist. Wenn man nur lange genug den Blick auf etwas gerichtet hält, dann zeigen sich Zusammenhänge, die anders schwer auszumachen sind, ein Verstehen tritt an die Stelle, wo ehedem nur Verständnis gewesen ist.

Standard: Die Geschichte Janies ist auch die Geschichte einer Flucht. Anders als ihr Bruder, der auf der Flucht ertrank, hat sie überlebt.

Thien: Im physischen Sinne hat sie überlebt, aber der Roman handelt auch davon, dass das Überleben nie aufhört.

Standard: Im Roman tastet sich die Ich-Erzählerin Schritt für Schritt an die Schreckensbilder ihrer Kindheit heran – eine Kindheit, die sie lange Jahre hinter sich gelassen zu haben meinte. Die Literatur verwahrt sich zu Recht dagegen, ein therapeutisches Verfahren zu sein. Worin liegt der Unterschied?

Thien: In der Literatur geht es nicht zuletzt um Ästhetik, um Form. Ein etwaiger therapeutischer Effekt ist nicht ihr Ziel, nicht einmal ihre Absicht, was sie aber nicht davon abzuhalten braucht, zuweilen auch heilsam zu sein. Beiden gemein ist das Moment der Bewusstwerdung.

Standard: An anderer Stelle haben Sie die Unvollkommenheit als Ihr ästhetisches Prinzip bezeichnet ...

Thien: Ja, weil es ja immer auch ums Scheitern geht. Man scheitert an und mit den Figuren, und zwar auf mehreren Ebenen. Gerade bei diesem Buch bin ich mit meinen Möglichkeiten an viele Grenzen gestoßen, nicht zuletzt jene der Sprache. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, ohne Gefahr zu laufen, dass es pathetisch klingt ...

Standard: Nur zu ...

Thien: Die Arbeit an diesem Buch hat mich verändert, meine ganze Art über Literatur und mich selbst nachzudenken.

Standard: Warum gerade dieses Buch?

Thien: Weil Janie Dinge erlebt hat, die sie nicht beschreiben kann, und damit meine ich nicht nur jene, die mit den Mitteln der Sprache nicht beschreibbar, geschweige denn teilbar sind. Es geht auch um Erinnerungen, verlorene oder verlorengeglaubte Erinnerungen, und darum, was von uns übrigbleibt, wenn wir die Erinnerungen verlieren, ob überhaupt etwas übrigbleibt.

Standard: Sarah Kane lässt in "Gier" eine ihrer namenlosen Figuren davon sprechen, dass sie nicht vergessen könne, wiewohl sie sich an nichts erinnere. Ergeht es Janie ähnlich?

Thien: Ja, sie spürt genau diese Form der Entkoppelung und kommt zu einem Punkt, an dem ihre Identitätskonstruktion nicht mehr trägt. Und sie begreift den Irrtum, dass Schmerz und Leiden einander bedingten. Es gibt einen Schmerz, an dem man nicht leidet, und umgekehrt kann man schmerzlos leiden.

Standard: Im Buch gibt es auch einen Aspekt von Gewalt, der Janies Verhältnis zu ihrem achtjährigen Sohn Kiri betrifft: Es wird nicht expliziert, aber offensichtlich ist sie aus dem gemeinsamen Familienhaushalt ausgezogen, um ihren Sohn und sich selbst vor Übergriffen zu schützen.

Thien: Das ist ja die schreckliche Gefahr der frühen Erfahrungen von Gewalt und Flucht, dass sich die Traumatisierung fortschreibt. Gewalt ist ja nicht etwas, das sich in Luft auflöst, nachdem man mit dem Leben davongekommen ist. Oft führt sie zu einer diffusen Gewaltdisposition, die in Verbindung mit dem Schuldgefühl, überlebt zu haben, über Generationen weitergetragen wird.

Standard: Sie haben sich wiederholt gegen autobiografische Deutungen Ihrer Figuren verwahrt. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Thien: Weil die autobiografische Frage nie zum Wesenskern von Literatur führt, der ja aus der wunderbaren Möglichkeit besteht, über das Schreiben in die Sprache eines anderen Menschen zu gelangen, und erst über diese Aneignung erschließt sich eine ganz neue Welt.

Standard: Man kann also nur ein Anderer sein, nachdem man sich dessen Sprache zu eigen gemacht hat?

Thien: Bei Orhan Pamuk heißt es zur Aufgabe des Schriftstellers, dass er es vermögen müsse, seine eigene Geschichte so zu erzählen, als erzähle er die eines Anderen und die Geschichten der Anderen so, als wäre es seine eigene. Ich denke, es geht in meinem Schreiben immer auch um diese Ausdehnung; darum, mehr und mehrere zu sein, als ich ehedem gewesen bin. Literatur ist eine sehr wirkmächtige Form, den Rahmen, innerhalb dessen wir die Welt betrachten, zu verändern, und ich wüsste nicht, wie ich ohne diese Möglichkeit leben könnte.

Standard: Welchen Beitrag kann die Literatur zu einem Thema leisten, das ob seiner Aktualität von allen Seiten beansprucht und nicht selten instrumentalisiert wird?

Thien: Es wird ja meist so getan, als wäre die Gegenwart losgelöst aus allen Zusammenhängen. Das führt zu einer falschen und unheilvollen Engführung von Themen, wie das ja an der Verknüpfung der Flüchtlingsfrage mit dem Terrorismus einmal mehr deutlich wird. Eine der großen Stärken von Literatur besteht darin, dass sie ganz anders mit der Dimension Zeit umgehen kann, als dies in den aktualitätsgetriebenen Debattenbeiträgen möglich ist. Die Überblendung unterschiedlicher Zeitschichten führt in die Tiefe, und im Idealfall führt sie den Autor auch zu dem Punkt, der in der Fotografie als "decisive moment" bezeichnet wird, also jenen Augenblick, der alles verändert, der eine naive Rückkehr zum Beginn ausschließt.

Standard: Sie haben sich sehr früh für diesen Weg entschieden.

Thien: Ja, ich wollte nie etwas anderes tun. Ich war von der Idee des Schreibens begeistert, seit ich lesen konnte. Es ist mir unfassbar groß und schön, ja, als das Außerordentlichste überhaupt erschienen, jemanden über das Erzählen einer Geschichte dazu zu bringen, sich in einer Welt zu verlieren, die vordergründig nicht seine eigene zu sein scheint.

Standard: Aber das haben Sie damals vermutlich anders formuliert, oder?

Thien: (lacht) Vermutlich ja.

Standard: Konnten Sie sich ein Stück dieser kindlichen Begeisterung fürs Schreiben über die Jahrzehnte bewahren?

Thien: Auf jeden Fall. Die wunderbaren Möglichkeiten der Literatur waren von den Ernüchterungen meines Lebens nie betroffen.

(INTERVIEW: Josef Bichler, 19.12.2015)