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Es gehe vor allem darum, für Freiheit und Demokratie einzustehen, sagt der ehemalige tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg.

Foto: Reuters / Petr Josek

STANDARD: Warum sind die mittel- und osteuropäischen Länder so wenig solidarisch, gar inhuman?

Karel Schwarzenberg: Das ist ein Blödsinn. Wir sind nicht unsolidarisch. Es sind zum Beispiel viele junge Leute aufgebrochen, um in Flüchtlingslagern in Serbien oder Kroatien zu helfen. Man ist auch hier in Tschechien bereit, etwas zu machen. Aber es war die größte Ungeschicklichkeit, dass man gleich am Anfang verkündet hat, dass man Aufnahmequoten einführen wird, und Punkt.

STANDARD: Da reden Sie von der Zivilgesellschaft. Aber die meisten Regierungen verweigern sich.

Schwarzenberg: Die Politiker waren angefressen, als man von Zwangsquoten gesprochen hat.

STANDARD: Was hätte die EU-Kommission sonst tun sollen?

Schwarzenberg: Statt zu verordnen, hätte man in Verhandlungen eintreten sollen, das Problem behutsam, geduldig angehen. Die Leute wären zugänglich gewesen.

STANDARD: Bis zu Kanzlerin Angela Merkels Satz "Wir schaffen das!" hat aber keiner gehandelt. Premier Viktor Orbán erklärte, Ungarn könne syrische Flüchtlinge aus kulturellen Gründen nicht nehmen, tat alles, um sie loszuwerden.

Schwarzenberg: Es stimmt schon, diese Argumentation hat es gegeben, auch bei uns. Man sollte aber nicht vergessen: Während Westeuropa seit dem Zweiten Weltkrieg sukzessive dazu erzogen wurde, sich daran gewöhnt hat, dass Leute aus aller Herren Länder kommen, Menschen verschiedener Hautfarbe und Religionen, hat es das unter kommunistischen Regimen nicht gegeben. Das Einzige, was es in der Tschechoslowakei gab, waren Vietnamesen, als Fremdarbeiter importiert.

STANDARD: Staatlich verordnet?

Schwarzenberg: Ja. Ich kann mich erinnern, noch Anfang 1990, da war ich in einer kleineren tschechischen Stadt unterwegs, und es war ein schwarzer amerikanischer Journalist dabei. Nach dem haben sich die Leute umgedreht. Das waren sie nicht gewöhnt.

STANDARD: Man kann das verstehen, aber heute ein Maßstab?

Schwarzenberg: In der Zeit, in der die Portugiesen bereits Afrika umschifft hatten, am Persischen Golf Festungen gebaut, Brasilien gegründet hatten, da sind böhmische Kaufleute allenfalls bis nach Nürnberg zur Messe gekommen. Nur die Couragierten kamen bis nach Venedig. Verstehen Sie, das bestimmt durch die Jahrhunderte die Art des Zugangs zu Fremden, es fehlt die Erfahrung.

STANDARD: Also gibt es 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs doch Probleme mit Grundwerten, auch mit der Demokratie?

Schwarzenberg: Nein, das sehe ich nicht so. Wir sind größtenteils demokratisch, dem Rechtsstaat und der Freiheit verpflichtet. Aber man muss verstehen, dass die Kulturation anders vor sich geht. Gesellschaften entwickeln sich nicht sprungweise, das dauert gewöhnlich einige Zeit. Diese Abgeschlossenheit im Kommunismus, die hat natürlich ihre Auswirkungen.

STANDARD: Ist das eine Sache von Generationen?

Schwarzenberg: Österreich hat den Genuss des Nationalsozialismus nur für sieben Jahre gehabt. Und trotzdem hat es in den 1950er-Jahren den Geruch des Nationalsozialismus noch überall gegeben. Erst nach 30, 40 Jahren ist das verlorengegangen. Es braucht eine Zeit.

STANDARD: Meinen Sie, der Westen soll nicht so schnell den Stab über die Menschen im Osten brechen?

Schwarzenberg: Auf jeden Fall. Die Generation, die knapp vor 1989 oder danach geboren wurde, die hat ein völlig anderes Denken als ihre Väter und Großväter. Die leben in einer anderen Welt, sie sind im Westen, in der Freiheit aufgewachsen, bis nach Amerika oder Japan gekommen. Das schafft ein ganz anderes Weltbild. Man soll nicht glauben, dass mit dem Regimewechsel sofort ein Mentalitätswechsel einhergeht.

STANDARD: Warum sind Populisten wie Orbán dann auch bei den Jungen so erfolgreich?

Schwarzenberg: Das ist bedauerlicherweise nicht auf Ungarn oder Tschechien beschränkt, das gibt's in Frankreich, den Niederlanden, Finnland und so weiter. Es gibt zwei Gründe dafür. Die großen demokratischen Parteien sind schal und leer geworden. Sie sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, das Gedankengut ist 150 Jahre alt. Sie haben nichts Neues anzubieten. Da sollten wir uns nicht wundern, wenn es junge Leute nicht anspricht.

STANDARD: Der zweite Grund?

Schwarzenberg: Die Persönlichkeiten sind blass geworden, die locken niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Bedauerlicherweise wenden sich die Leute dann aus Langeweile oder aus Frustration eben solchen Demagogen zu.

STANDARD: Warum vor allem den Rechtspopulisten?

Schwarzenberg: In dem Moment, wo sie populistisch sind, sind sie nie nur rechts. Die nehmen viele linke Elemente auf. Eines der "genialsten" dieser Rezepte hat ein gewisser Adolf Hitler verwendet, er hat ganz bewusst den Namen "Nationalsozialistische Arbeiterpartei" gewählt. Es ist ein Blödsinn, da mit rechts und links zu argumentieren. Man kann auch bei Herrn Le Pen oder seiner Tochter linke Argumente finden.

STANDARD: Le Pen spricht von der EU als "Diktatur". Eint sie die Attacke auf die plurale Demokratie?

Schwarzenberg: Und die Bewunderung für Wladimir Putin. Es gibt ja nicht nur Le Pen, sondern auch österreichische Politiker, die heute gläubig nach Moskau pilgern. Die Aufteilung in rechts und links ist überholt. Der Unterschied ist, ob wir für Demokratie, den Rechtsstaat und die Freiheit einstehen.

STANDARD: Überschätzen wir die Krise in Europa, unterschätzen wir den Erfolg der EU-Integration?

Schwarzenberg: Ob die Herausforderung durch die Flüchtlinge groß genug ist, damit wir unsere fetten Hintern erheben, weiß ich nicht. Aber man muss auch sagen: Werden wir nicht hysterisch. Wie viele Europäer gibt es?

STANDARD: In der EU 507 Millionen.

Schwarzenberg: Und wie viele Flüchtlinge kommen?

STANDARD: 2015 dürften es so um die 1,6 Millionen sein, weniger als in der Nachkriegszeit nach 1945.

Schwarzenberg: Eben. Man muss sich die Zahlen realistisch anschauen. Wir sollten uns nicht so aufpudeln. Wir brauchen Gelassenheit und Hilfsbereitschaft. Die Gesellschaft entwickelt sich leider nicht so schnell, wie wir möchten, und manchmal nicht in die Richtung, auf die wir hoffen. (Thomas Mayer, 20.12.2015)