Vanessa Sahinovic am 30. Mai in Wien bei der Einkleidung für Baku.

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Vanessa Sahinovic gewöhnt sich im Rehazentrum in Bad Häring in Tirol an ihren Rollstuhl.

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Auf dem Wiener Rathausplatz formten Menschen an einem Regentag Anfang Oktober ein großes Herz, um ihre Empathie für Sahinovic und Kira Grünberg auszudrücken.

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Wien – Demnächst soll es nach Dubai gehen. Weil es warm ist in Dubai, weil man dort baden kann, weil man nicht lange fliegt. Noch nie war die Familie Sahinovic so urlaubsreif. Ihre Welt, die Welt der Eltern Azra und Safet sowie der Kinder Vanessa und Benjamin, ist vor einem halben Jahr völlig aus den Fugen geraten. Vanessa, damals 15 Jahre alt, wurde bei den Europaspielen in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku von einem Bus überfahren, von einem Shuttlebus der Organisation, der ungebremst in eine Gruppe österreichischer Synchronschwimmerinnen raste.

Der Fahrer gab später an, er habe Gas- und Bremspedal verwechselt. Zwei weitere Mädchen wurden ebenfalls verletzt, Lisa Breit erlitt eine Oberschenkelprellung, Luna Pajer einen komplizierten Armbruch. Sahinovic hatte es mit Mehrfachfrakturen, vor allem einem Bruch des 12. Brustwirbels, am schwersten erwischt. Sie ist vom Nabel abwärts querschnittgelähmt.

Es gibt im Internet ein Video von dem Unfall. Man tut gut daran, sich das Video nicht anzusehen – das sagen fast alle, die es doch getan haben. "Für mich war es gut, das Video zu sehen", das sagt Azra Sahinovic, Vanessas Mutter. Die Verzweiflung sei etwas geringer geworden, seither überwiege eine Art von Dankbarkeit. Azra sitzt auf einer Couch in ihrer Wohnung in Wiener Neudorf und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. "Gott sei Dank ist Vanessa am Leben", sagt sie, "und Gott sei Dank ist ihr Kopf in Ordnung."

Eine weitere Hiobsbotschaft

Exakt sieben Wochen nach dem 11. Juni ereilte den österreichischen Sport die nächste Hiobsbotschaft. Am 30. Juli stürzte die Stabhochsprungrekordlerin Kira Grünberg im Training schwer, sie zog sich einen Bruch des fünften Halswirbels zu. Die Folgen waren noch schlimmer als bei Sahinovic, Grünberg ist vom Hals abwärts gelähmt. Und doch ist es so, dass erst die Aufarbeitung des Grünberg-Unfalls, wenn man so will, die Reaktion auf den Sahinovic-Unfall in einem Licht erscheinen lässt, das ansonsten vielleicht gar nicht angegangen wäre.

Viele meinen, das würde allein daran liegen, dass Kira Grünberg einen Manager hat. Der Manager organisierte Spendenaktionen, Besuche von Politikern wie Bundespräsident Heinz Fischer und Sportminister Gerald Klug, organisierte Fernsehauftritte und Zeitungsinterviews. Vanessa Sahinovic hat keinen Manager. Sie hat nur das Österreichische Olympische Komitee (ÖOC), das sie nach Baku entsandt hat. Sie hat nur das Europäische Olympische Komitee (EOC), das über den dortigen Wettkampf wachte. Sie hat nur das Internationale Olympische Komitee (IOC), das die Europaspiele, die zum zweiten Mal stattfanden, propagiert und neben den Olympischen Spielen etablieren will. Nur das ÖOC, nur das EOC, nur das IOC? Nur?

Der Sahinovic-Unfall war während einer olympischen Veranstaltung passiert, sie war auf dem Weg zum Training, als sie überfahren wurde. Aserbaidschan hatte enorm investiert, um das Image von Präsident Ilham Alijew zu polieren und in der Weltöffentlichkeit gut dazustehen. Allein die Eröffnungsfeier samt Auftritt von Lady Gaga am 12. Juni, dem Tag nach dem Unfall, schlug mit 84,8 Millionen Euro zu Buche, wie der aserbaidschanische Sportminister Azad Rahimov verkündete. Die Gesamtkosten der Spiele sollen neun Milliarden Euro ausgemacht haben. Die Organisatoren verwiesen auf drei verschiedene Budgets – Infrastruktur, Bau, Betriebskosten – und bezifferten allein die Betriebskosten, nämlich mit 820 Millionen Euro.

"Sie hat sich so auf die Spiele gefreut"

Über Alijew, den Präsidenten, und die Budgets hat sich Vanessa Sahinovic nicht den Kopf zerbrochen. Für sie sollte der Teamauftritt bei den Europaspielen ein erster Karrierehöhepunkt werden. 6000 Sportlerinnen und Sportler sowie 3000 Betreuer aus fünfzig Nationen waren nach Baku gereist, die ÖOC-Delegation umfasste 143 Aktive und 79 Betreuer. Schon die Einkleidung in Wien war ein Erlebnis für Sahinovic, die Jüngste im ÖOC-Team. "Sie hat sich so auf die Spiele gefreut", sagt ihre Mutter,

29. Oktober, Austria Center Vienna, "Galanacht des Sports". Anna Fenninger, Marcel Hirscher und Österreichs Fußballteam werden wenig überraschend als Sportlerin, Sportler und Mannschaft des Jahres ausgezeichnet. In Erinnerung geblieben ist vor allem der sehr bewegende Auftritt von Kira Grünberg, die von ihrem Manager auf die Bühne geschoben wurde. Vanessa Sahinovic wurde nicht einmal erwähnt. Hatte niemand daran gedacht? Niemand beim Veranstalter, der Sporthilfe, niemand beim ORF, niemand bei der Sportjournalistenvereinigung "Sports Media Austria"? Wochen vor der Gala hatte DER STANDARD nachgefragt und die Auskunft erhalten, beide Sportlerinnen würden im Galarahmen gebührend gewürdigt werden. Beide.

Da gibt es auch Vanessa Sahinovic. Auch sie hat einen Unfall gehabt. Auch sie sitzt im Rollstuhl. Immer wieder ist dieses Auch zu hören und zu lesen, immer wieder irritiert es. Doch bei der Gala-Nacht des Sports hat selbst das Auch gefehlt. Ansonsten wurden bei etlichen Anlässen Spenden für beide Sportlerinnen lukriert, etwa als auf dem Wiener Rathausplatz Menschen ein großes Herz formten oder als der ehemalige Presse-Sportchef Josef Metzger einen Charity-Kalender päsentierte. Eigens für Vanessa gab es ein 24-Stunden-Schwimmen in Bad Radkersburg. Und beim "Tag des Sports" auf dem Wiener Heldenplatz stellte der Schwimmverband eine Spendenbox hin, knapp 300 Euro kamen da zusammen. Vanessa hat keine eigene Webseite, immerhin wurde ein Spendenkonto eingerichtet.

Familie aus Bosnien

Nicht nur Vanessa und Kira kennen sich, Azra Sahinovic hat im AUVA-Rehabilitationszentrum in Bad Häring in Tirol auch die Eltern Grünberg kennengelernt. "Extrem nette Menschen. Und auch der Tom, der Manager, ist extrem nett." In der öffentlichen Wahrnehmung spielt, abgesehen vom Manager, natürlich eine Rolle, dass Vanessa, seit drei Wochen 16 Jahre alt, minderjährig ist. Und es spielt eine Rolle, dass Aserbaidschan nach dem Unfall eine großzügige finanzielle Unterstützung zugesagt hat. Vor allem aber hört man von offizieller Seite inoffiziell immer wieder, dass Azra Sahinovic immer noch "sehr emotional" reagiere, dass sie "ungeduldig" sei. Man hört, dass es mit dieser Frau "nicht einfach ist". Dabei müsste man doch vielmehr hören, dass es diese Frau nicht einfach hat.

Azra und Safet Sahinovic stammen aus Bosnien, sie aus Tuzla im Osten, er aus Bihac im Westen des Landes. Der Krieg hat sie nach Wien gebracht, hier haben sie sich kennengelernt, 1998 wurde geheiratet. 1999 kam Vanessa zur Welt, 2003 kam Benjamin, genannt Benny, nach. Azra hatte in Bosnien ein Gymnasium besucht, in Wien kam sie zunächst bei einer Cousine ihres Vaters unter, sie sollte, wollte aber nicht Fußpflegerin werden, besuchte die Berufsschule und wurde Verkäuferin. Bis 11. Juni hat sie bei H&M in der Shopping City Süd verkauft, seit 11. Juni ist sie krankgeschrieben. Safet ist Monteur.

Die Sahinovics sind in Wiener Neudorf nicht schlecht über die Runden gekommen, ihre Wohnung gehört ihnen, sie liegt aber im zweiten Stock ohne Aufzug. Dieser Tage kommt Vanessa, die der ORF zu "Sport am Sonntag" eingeladen hat, nach Hause. Der Papa wird sie hinauf- und hinuntertragen. Seit Ende September war Vanessa in Bad Häring. Nach dem Unfall war sie wochenlang im Krankenhaus gelegen, sie wurde mehrfach operiert. Der Transport von Baku nach Wien erfolgte nicht, wie seitens der Versicherung vorgesehen, mit einem Ambulanzjet. Präsident Alijew stellte seinen Privatjet zur Verfügung. Das sparte Zeit, wird seitens des ÖOC argumentiert. Und der Alijew-Jet, wird ebenfalls betont, sei medizinisch angemessen ausgestattet gewesen.

Freizeitunfall oder nicht

Die Wiener Städtische, Partner des ÖOC, hat 600.000 Euro zugesagt, das wäre die Höchstsumme in dem Fall. Ungefähr ein Viertel des Geldes wurde bereits überwiesen, der Rest soll folgen, wenn Vanessa ein Jahr nach dem Unfall untersucht worden ist. Das ist das übliche Prozedere.

Rechtsanwalt Nikolaus Rosenauer, der die Familie Sahinovic im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Ansprüche im In- und Ausland vertritt, kämpft auch um Leistungen für eine Invaliditätsrente: Während bei Grünberg der Unfall als Arbeitsunfall läuft, weil sie als Leistungssportlerin beim Bundesheer angestellt ist, und ihr daher eine Invaliditätsrente zuerkannt wurde, liegt ein entsprechender Bescheid bei Sahinovic noch nicht vor. Rosenauer ist der Auffassung, dass ein Unfall, den eine Sportlerin als Mitglied eines vom ÖOC entsandten Teams bei internationalen Wettkämpfen erleidet, keinesfalls als Freizeitunfall zu qualifizieren ist und daher auch Vanessa Ansprüche auf Leistungen der AUVA hat.

Das geht nicht nur Minderjährige, sondern alle an, denen nicht dadurch gedient ist, dass sie dem Bundesheer – oder der Polizei – dienen. Sind österreichische Sportlerinnen und Sportler im Fall von Unfällen ausreichend versichert? Sportminister Gerald Klug hält fest: "Für die Entsendung von Sportlerinnen und Sportlern zu internationalen Wettkämpfen genauso wie für ihre Versicherung bei solchen Bewerben ist der entsendende Verband zuständig. Im Fall der European Games liegt die Verantwortung beim ÖOC." ÖOC-Generalsekretär Peter Mennel sagt: "Wir können nicht jeden Athleten anstellen, der zu Olympischen Spielen fährt."

Zusage aus Aserbaidschan

Was Sahinovic betrifft, so geht Mennel davon aus, dass Aserbaidschan die Zusagen bald einhält. "Hoffentlich noch vor Jahreswechsel. Die Vereinbarung wird derzeit endredigiert." Das ÖOC, sagt Mennel, habe sich sehr für Sahinovic eingesetzt und eine "deutliche Verbesserung des aserbaidschanischen Erstangebots" erreicht. Im Raum steht eine Summe, die einer angemessenen monatlichen Rente über sechzig Jahre gleichkommen würde.

Die Kommunikation läuft längst über Anwälte, Sahinovic wird von Rosenauer vertreten, das ÖOC von Herbert Hübel, der Präsident des Salzburger Fußballverbands und ÖOC-Vorstandsmitglied ist. Für die aserbaidschanische Seite wird die Kanzlei Lansky, Ganzger und Partner tätig. Vertreter der Botschaft in Wien haben Vanessa mehrfach im Spital besucht. "Wirklich sehr nette Leute", sagt ihre Mutter.

Mag sein, es geht um viel Geld. Viel Geld ist aber relativ. "Alles würde ich hergeben", sagt Azra Sahinovic, "wenn es nur wieder so wäre wie früher." Die Familie sieht sich nach einem Grundstück um, will ein behindertengerechtes Haus bauen. Auch die Betreuung und die Therapie von Vanessa werden viel Geld kosten, gute Reha-Einrichtungen verlangen mehrere hundert Euro pro Tag. Ohne Sicherheit kann Azra Sahinovic nicht planen, das regt sie auf.

Azra Sahnovic ist in den vergangenen Wochen, sooft sie konnte, mit dem Zug nach Tirol gefahren, hat in der Nähe des Reha-Zentrums eine Ferienwohnung gemietet. Mit dem Rollstuhl kann Vanessa mittlerweile sehr gut umgehen, sie wünscht sich weiterführende Therapien. "Vielleicht erzielt die Forschung in den nächsten Jahren einen Durchbruch", sagt Azra Sahinovic. "Wir hoffen auf ein Wunder. Wir geben die Hoffnung nicht auf, dass Vanessa irgendwann wieder gehen kann." Fix ist, dass Vanessa in absehbarer Zeit wieder in ihre Schule in der Südstadt zurückkehren wird.

Azra Sahinovic weint oft, natürlich lacht sie auch, und sie lacht immer öfter. Vanessa Sahinovic lacht sowieso sehr oft, sie war stets ein fröhliches Mädchen, sie ist ein fröhliches Mädchen. Azra sagt, dass sie "so stolz" ist auf ihre Tochter Vanessa. Vanessa ohne "auch". Vanessa Sahinovic. (Fritz Neumann, 21.12.2015)