Ausradiert: ein Straßenwegweiser aus Sowjetzeiten in Bergkarabach, auf dem die Verbindungen nach Aserbaidschan ausgelöscht wurden.

M. Bernath

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Auf Distanz: Der Schweizer Außenminister Didier Burkhalter versuchte am Samstag in Bern, den armenischen Präsidenten Serge Sarkissian (li.) und dessen aserbaidschanischen Kollegen Ilham Alijew (re.) auf ein Bild zu bringen.

Reuters

Das Jahr im Kleinen Kaukasus geht zu Ende, wie es begonnen hat: mit Artilleriefeuer an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze und entlang der sogenannten Kontaktlinie, wo der Krieg um Bergkarabach 1994 zum Stillstand gekommen war. Vorerst. Viele Karabach-Experten sind alarmiert über den Einsatz von Panzern und Haubitzen, wo lange allenfalls Gewehrkugeln verschossen wurden. 2016 könnte das Jahr werden, wo der letzte der "eingefrorenen" Territorialkonflikte im Südkaukasus aufbricht. Gegenseitig hochgeschaukelt von den Führern der beiden verfeindeten Länder – Ilham Alijew und Serge Sarkissian – und deren wirtschaftlichen oder innenpolitischen Problemen, so heißt es; und unterstützt in der einen oder anderen Weise vom russischen Staatschef, der bereits in Georgien, der Ukraine und in Syrien den Machtanspruch seines Landes demonstrierte.

Stichhaltig scheint das nicht. Weder die finanziellen Einbußen des aserbaidschanischen Staats durch den gesunkenen Ölpreis noch die Opposition in Armenien gegen eine mögliche Fortführung von Sarkissians Regierungszeit nach dem Ende seines zweiten Mandats als Präsident machen ein militärisches Abenteuer um Bergkarabach wirklich denkbar. Doch ein Krieg, der aus nahezu täglichen Konfrontationen auf einen Schlag ausbricht, ist sehr wohl ein plausibles Szenario geworden.

Erstmals Panzer

80 Angriffe von armenischer Seite innerhalb von 24 Stunden meldete das aserbaidschanische Verteidigungsministerium am 19. Dezember. Vier Soldaten seines Landes seien allein im Lauf dieses Monats getötet worden, gab der Minister in Baku an. Die armenische Armee soll von Stellungen nördlich des Sevan-Sees nach Aserbaidschan gefeuert haben; im Hochland liegen auf armenischer Seite zwei winzige aserbaidschanische Exklaven – Barxudarli und Yuxari Eskipara –, die seit dem Krieg um Bergkarabach, eine zu Sowjetzeiten noch mehrheitlich von Armeniern bewohnte autonome Region in Aserbaidschan, von Eriwan verwaltet werden. Artilleriefeuer im Norden Armeniens, weit entfernt vom Karabach-Gebiet, ist dieses Jahr häufig geworden. Drei armenische Dorfbewohnerinnen starben dabei im September.

Aserbaidschan habe am 9. Dezember erstmals seit dem Ende des Karabachkriegs 1994 Panzer eingesetzt und auf Stellungen der Karabach-Armenier gefeuert, betonte Richard Giragosian, Leiter des Regional Studies Center, eines Thinktanks in Eriwan. 300 Granaten seien in der Nacht vom 8. auf den 9. Dezember an der Kontaktlinie eingeschlagen; die armenische Armee habe wenige Tage später eine Drohne israelischer Fabrikation abgeschossen, die von der aserbaidschanischen Armee zur Aufklärung eingesetzt worden war. All das zeige den Willen zum größeren militärischen Einsatz als bisher, folgerte Giragosian.

Zwei Tote vor dem Gipfeltreffen

In Karabach selbst meldete das Verteidigungsministerium der international nicht anerkannten Regierung am 18. Dezember den Tod zweier junger Soldaten; ein aserbaidschanischer Trupp sei nachts über die Kontaktlinie gekommen und wollte eine Stellung erobern, hieß es.

Dabei trafen sich die Staatspräsidenten beider Länder am Samstag in Bern zum ersten Mal in diesem Jahr. Alijew und Sarkissian scheinen weit entfernt von einer Umsetzung von Friedensplanprinzipien, wie sie 2007 unter Vermittlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Madrid präsentiert worden waren. Es geht um den Abzug der armenischen Truppen aus den besetzten aserbaidschanischen Gebieten um Bergkarabach, um ein Referendum und um den künftigen Status der jetzigen Separatistenrepublik. Immerhin sprechen die beiden Präsidenten aber miteinander. Und die Vertreter der Minsk-Gruppe – die USA, Russland und Frankreich – versicherten einander, dass ihre Vermittlerrolle weiterhin von den beiden Staaten gesucht werde.

Die russische Frage

Russland ist das schillerndste Mitglied dieses Vermittlertrios. Armeniens Politiker sind enttäuscht und verunsichert über den großen russischen Bruder, weil auch nach der Absage Armeniens an die EU und der Entscheidung zum Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion nicht klarer wurde, ob Russland im Fall eines Kriegs gegen Aserbaidschan tatsächlich aufseiten der Armenier stünde. Aserbaidschan wiederum hat dieser Tage erst aus dem Mund des russischen Botschafters bei der OSZE in Wien, Alexander Lukaschewitsch, hören müssen, dass die Unterstützung "für eine der Parteien im Konflikt in Nagorny-Karabach, wie es die türkische Seite vorschlägt, zerstörerisch sind und nicht fortgesetzt werden können". Auch die Türkei verkauft Waffen an Aserbaidschan und stützt politisch ihren "Bruderstaat" am Kaspischen Meer vor allem durch die geschlossenen Grenzen nach Armenien.

Manche westliche Sicherheitsexperten halten den russischen Präsidenten Wladimir Putin nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre auch für imstande, einen militärischen Konflikt in Bergkarabach loszutreten, aus dem Russland dann strategische Gewinne zöge. Es ist allerdings nicht ersichtlich, welches Interesse Russland unter den gegenwärtigen Umständen an einem Krieg in Bergkarabach hätte.

Konflikt mit der Türkei

Russland verfügt bereits über eine große Militärbasis in Armenien – die größte der russischen Armee im Südkaukasus – und hatte bisher ausreichend wirtschaftlichen und politischen Einfluss, um die beiden verfeindeten Nachbarn Armenien und Aserbaidschan auf Abstand voneinander zu halten. Russlands Konflikt mit der Türkei wegen des Abschusses der SU-24 im vergangenen November und überhaupt wegen der unterschiedlichen Interessenlage im Krieg in Syrien macht die Basis in Armenien nur noch wertvoller. Der Besuch des russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu auf dem Stützpunkt in Gyumri und die Stationierung von Kampf- und Transporthubschraubern Anfang Dezember auf der russischen Luftwaffenbasis Erebuni sollten offensichtlich das türkische Militär beunruhigen. Türkische Hubschrauber waren Anfang Oktober an zwei aufeinanderfolgenden Tagen für wenige Minuten in den armenischen Luftraum geflogen – angeblich ein Versehen wegen schlechten Wetters, nach russischer und armenischer Interpretation damals aber eine Botschaft an Russland wegen der wiederholten Luftraumverletzungen im türkisch-syrischen Grenzgebiet.

Von Aserbaidschan aus betrachtet, nehmen sich Russlands Verwicklung im Syrien-Krieg, der Streit mit der Türkei und auch der andauernde Konflikt mit der EU wegen der Krim-Annexion und des Separatistenkriegs in der Ukraine jedoch anders aus: Moskaus Aufmerksamkeit ist gebunden, das Interesse an einem Engagement in einem weiteren Krieg in der Region nicht gegeben. Wenn sie es denn wirklich will, hat die Führung in Baku derzeit mehr Spielraum als jemals zuvor in den vergangenen Jahren für einen militärischen Vorstoß in die von Armenien besetzten Gebiete und nach Bergkarabach. (Markus Bernath, 21.12.2015)