Ist die Demokratie in Polen, in dem mit Abstand wichtigsten ostmitteleuropäischen Mitgliedsstaat der EU in Gefahr? Strebt die Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), die mit 37,6 Prozent die absolute Mehrheit der Parlamentsmandate am 25. Oktober gewonnen hat, die Schaffung eines autoritären Systems an? Will der starke Mann Polens, PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski durch die Entmachtung des Verfassungsgerichtes die Gewaltenteilung aufheben, die Medien, die Verwaltung und Justiz unter die Kontrolle der Regierungspartei bringen?

Knapp sechs Wochen nach dem Wahlsieg gingen am Wochenende wieder Zehntausende auf die Straßen in Warschau und in zwanzig anderen Städten, von einem innerhalb weniger Wochen entstandenen parteiunabhängigen "Komitee zur Verteidigung der Demokratie" (KOD) und den sozialen Medien mobilisiert, um gegen die Aushöhlung des Rechtsstaates und die Verletzung der Verfassung zu protestieren.

Die Maßnahmen und die Ankündigungen der faktisch aus dem Hintergrund von Kaczynski geführten Regierung haben zu Recht im In- und Ausland Sorge um die Zukunft der polnischen Demokratie ausgelöst. "Mehrheit bedeutet nicht Diktat", sagte der Gründer des KOD. Ihn und die anderen Kritiker der Politik der Gleichschaltung nennen Kaczynski und seine Handlanger "Vaterlandsverräter". In Kontrast zu früheren Spekulationen entpuppten sich die in der Wahlkampagne gemäßigt aufgetretenen Politiker Präsident Duda und Ministerpräsidentin Szydlo bald nach der Eroberung der Macht als bloß jüngere Marionetten des Parteichefs,

Unabhängig von der Ähnlichkeit der politischen Linie Orbáns und Kaczynskis in manchen Kernfragen (Sehnsucht nach der starken Hand, nationale Abschottung von der dekadenten, liberalen Demokratie, Verweigerung der Mithilfe bei der Flüchtlingskrise) darf man die großen Unterschiede zwischen Ungarn und Polen nicht übersehen. Nach dcr blutigen Niederschlagung des Oktoberaufstandes 1956 gab es drei Jahrzehnte später einen friedlichen "sanften" Regimewechsel ohne totalen Bruch. Orbán gewann durch seinen nationalpopulistischen Kurs zweimal die Zweidrittelmehrheit gegen eine diskreditierte und zerrissene linksliberale Konkurrenz. Trotz des Verlustes der Zweidrittelmehrheit bei Nachwahlen ist die Hegemonie der Fideszpartei durch weitverzweigte Netzwerke der Korruption so gefestigt, dass sie, wenn überhaupt, nur von rechts gefährdet werden könnte.

In Polen hinterließ die liberal-konservative Bürgerplattform nach acht Jahren eine blühende Wirtschaft und eine funktionierende Demokratie. Kaczynski versucht im Gegensatz zur raffinierten Taktik Orbáns in rasantem Tempo eine brutale und totale Flurbereinigung durchzusetzen. Die Demokratie ist in Gefahr. Polen ist aber nicht Ungarn. Die Tradition der Bürgerbewegung und der Gewerkschaft Solidarnosc ist nicht tot. Von Lech Walesa bis zu Regisseurin Agnieszka Holland unterstützen alte und junge Bürgerrechtler, Intellektuelle und Studenten den Widerstand gegen ein "rechtloses" Polen. Die EU muss schnell einschreiten, wenn Grundrechte und Verfassung in einem so bedeutenden Mitgliedsstaat mit Füßen getreten werden. (Paul Lendvai, 21.12.2015)