Warschau/Wien – Immer wieder blitzen im Meer der rot-weißen Nationalflaggen blaue EU-Fahnen auf. Auf Transparenten wird nichts weniger als Demokratie gefordert, eine ältere Dame trägt ein kleines rotes Büchlein vor sich her: "Verfassung der Republik Polen" steht auf dem Einband.

Zehntausende demonstrierten am Wochenende in Warschau und in 20 weiteren Städten gegen die nationalkonservative Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). "Hände weg vom Verfassungsgericht", skandierten sie und stellten sich damit schützend vor die Höchstrichter, in denen sie die letzte verbliebene Kontrollinstanz Polens sehen.

Gefolgsleute im Verfassungsgericht

Im Mai war Andrzej Duda mit Unterstützung der PiS zum Präsidenten gewählt worden, im Oktober gewann die Partei von Expremier Jarosław Kaczyński die Parlamentswahl – und kann seither mit absoluter Mehrheit regieren. Nun, so befürchten Kritiker, will die PiS auch noch das Verfassungsgericht unter ihre Kontrolle bringen: Duda weigerte sich, mehrere Verfassungsrichter zu vereidigen, die noch vom früheren liberalkonservativ dominierten Parlament gewählt worden waren, und ernannte stattdessen fünf andere Richter, die als Gefolgsleute der PiS gelten.

Dass das Verfassungsgericht diese Vorgehensweise als verfassungswidrig einstufte, beeindruckte die neue Führung Polens wenig. Die Veröffentlichung des Gerichtsentscheids im Gesetzesblatt ließ auf sich warten, während mit der Ernennung der neuen Richter rasch vollendete Tatsachen geschaffen wurden.

Auch eine geplante Gesetzesänderung, die zur Folge hätte, dass das Verfassungsgericht seine Beschlüsse künftig mit Zweidrittelmehrheit und im Beisein von 13 Richtern fällen muss, sorgt für Aufsehen. Das Gremium würde damit praktisch handlungsunfähig, befürchten Kritiker. Ein PiS-Abgeordneter signalisierte am Montag Kompromissbereitschaft: Über Verfassungsbeschwerden von Bürgern könne eventuell auch ein kleinerer Senat mit sieben Mitgliedern entscheiden.

Umbau des Staates

Viele Demonstranten trugen am Wochenende Aufkleber mit den Buchstaben "KOD" am Revers – die Abkürzung für das neue Komitee zur Verteidigung der Demokratie, das die Massenproteste organisiert. Natürlich könne der Wahlsieger bestehende Gesetze verändern, sagte KOD-Gründer Mateusz Kijowski am Sonntag in einer Sendung von TVP Info. Aber auch der Wahlsieger müsse sich dabei an geltendes Recht halten.

Es ist jedoch nicht nur die Sorge um die Verfassungshüter, die die Menschen auf die Straßen treibt. Auch die rasante Neubesetzung von Posten in staatsnahen Betrieben und der Verwaltung sorgt für Unmut. Der Chef des größten Mineralölkonzerns musste ebenso seinen Hut nehmen wie der Polizeipräsident oder die Leiter aller vier Geheimdienste. Auch bei der Wahl der Direktoren öffentlich-rechtlicher Medien will die Regierung künftig mehr mitreden.

"Regierungskurs furchterregend"

Unterstützung bekamen die Regierungskritiker am Montag von Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. Der Kurs der Regierung in Warschau sei "furchterregend", sagte Asselborn im deutschen Südwestrundfunk (SWR), die EU müsse "viel schärfer" als bisher reagieren. Wenn Justiz und Presse nicht unabhängig arbeiten können, dann müsse man auch darüber nachdenken, Warschau auf europäischer Ebene das Stimmrecht zu entziehen. Luxemburg hat noch bis Jahresende die EU-Ratspräsidentschaft inne.

Die Antwort des polnischen Außenministers Witold Waszczykowski kam prompt. Asselborns Äußerungen seien der "Versuch, in das demokratische und freie Handeln der polnischen Regierung einzugreifen", erklärte dieser im Sender TVP Info. Bereits vergangene Woche hatte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz gesagt, was sich in Polen abspiele, hätte "Staatsstreich-Charakter". Ministerpräsidentin Beata Szydło forderte Schulz auf, sich für seine Äußerung zu entschuldigen. (Gerald Schubert, 21.12.2015)