Europa hat also doch kein "zweites Griechenland" erlebt: Zwar blieb bei den spanischen Parlamentswahlen am Sonntag kein Stein auf dem anderen, denn immerhin wurde das Zweiparteiensystem abgewählt und wohl für immer zu Grabe getragen. Doch gleichzeitig wurde deutlich, dass trotz der massiven Unzufriedenheit und Empörung über Korruptionsskandale und EU-Sparprogramm im Dienste der Bankenrettung die Balance der Kräfte links und rechts der politischen Mitte im Wesentlichen gewahrt blieb. Das wird in Brüssel und Berlin wohl mit einiger Erleichterung registriert worden sein: Solche Verhältnisse in Madrid wie zuletzt in Athen hätten bei Juncker, Schäuble, Merkel und Co mit Sicherheit für Alarmstimmung gesorgt.

Grund zur Beruhigung besteht für sie dennoch nicht: Es hatte sich schon vor der Wahl sehr deutlich abgezeichnet, dass in Spanien das Establishment keine Zukunft mehr hat. Nicht nur der regierende konservative Partido Popular (PP) hat eine ziemlich dramatische Wahlschlappe erlitten, sondern auch dessen Antipode, der PSOE: Die Sozialisten verzeichneten ebenfalls ein historisches Desaster. Wie vor einigen Monaten in Griechenland stehen auch auf der Iberischen Halbinsel die Zeichen auf Zeitenwende – allerdings (noch) nicht so radikal.

Und demnächst könnte auch in einem weiteren südlichen EU-Partnerland, in Italien, am dort ohnehin extrem filigranen Parteiengebilde gerüttelt werden: Der früher als Komiker erfolgreiche und nunmehr als politisches Enfant terrible gefürchtete Beppe Grillo ist mit dem Movimento Cinque Stelle (Fünf-Sterne-Bewegung) schier unaufhaltsam auf Erfolgskurs. Auch für Italien gilt wie für Spanien und Griechenland: Es ist weniger die eigene politische Vision, die diese Gruppierung zum Erfolg führt, sondern vielmehr die Unzufriedenheit, die Ohnmacht, die Empörung und manchmal sogar das Entsetzen über Ansichten, Handlungen und Stil traditioneller Parteien, die dazu führt, sich umzuorientieren.

Europa muss sich darauf einstellen, demnächst noch stärker mit dieser "neuen" Politik konfrontiert zu werden. Längst scheint vielerorts das Konzept parteipolitischer Ideologie überholt zu sein, die dann doch nicht gelebt und umgesetzt wird. Das wurde in den vergangenen Jahren auch in Spanien sehr deutlich: Die iberischen Sozialisten stehen für viele Wähler nicht mehr für eine linke, solidarische und fortschrittliche Politik, sondern gelten ihnen schon längst als Erfüllungsgehilfen von Bankenrettung und Marktinteressen. Und auch der Partido Popular verlor seinen Nimbus, eine Volkspartei für alle zu sein, spätestens dann, als massenhaft Fälle dreister Korruption ans Tageslicht kamen.

Doch das Aufdecken und Anprangern von Misswirtschaft und Machtmissbrauch allein ist noch kein Rezept, um ein Land wie Spanien auch tatsächlich aus der Misere zu führen. Die politischen Newcomer Podemos und Ciudadanos müssen nun beweisen, dass sie – egal ob in Regierung oder Opposition – mehr können als lichte Utopien in düsteren Zeiten zu verkaufen.

Und auch die "Alten" wären gut beraten, sich den Wunsch der überwältigenden Mehrheit der Wähler zu Herzen zu nehmen und eine Drehung um 180 Grad zu vollziehen. Ob der Partido Popular dieses Manöver allerdings mit dem bisherigen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy als Kapitän vollziehen kann, ist mehr als fraglich. (Gianluca Wallisch, 21.12.2015)