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Kritik an Italien in der Flüchtlingsfrage sei überzogen, da das europäische Gesamtpaket nicht funktioniere, sagt Parlamentspräsidentin Boldrini. "Wir leisten schon unseren Teil."

Foto: EPA/MAURIZIO DEGLINNOCENTI

Wien – Eine faire Aufteilung der Flüchtlinge auf die EU-Staaten fordert die italienische Parlamentspräsidentin Laura Boldrini. "Europa ist eine Familie. Und was für eine Familie wäre das, wenn sie nicht alles teilen würde?", sagte sie anlässlich eines Wien-Besuchs am Dienstag im Parlament, wo sie ihre Amtskollegin Doris Bures (SPÖ) traf. "Es würde keine Flüchtlingskrise geben, wenn jeder EU-Partner seinen Beitrag leisten würde." Boldrini vermied es allerdings, Namen von Staaten zu nennen. Sie seien immer noch "Partner, die man umstimmen muss".

"Solidarität" sei der Schlüssel in der Europapolitik – nicht nur in der Flüchtlingsfrage. "Das soziale Engagement, das Zusammenstehen wird heutzutage in Europa vernachlässigt", kritisierte die ehemalige Spitzenfunktionärin beim Uno-Flüchtlingskommissariat UNHCR. "Die EU hat Europa Demokratie, Frieden und Wohlstand gebracht. Wir müssen uns mehr als zuletzt dafür einsetzen, dass die Bürger Europas diese Werte und Errungenschaften wieder zu schätzen lernen. Dieser Weg ist nämlich der einzige mögliche Weg für uns alle."

Radikaler Kurswechsel nötig

Anhand der Flüchtlingskrise in Europa sei unschwer zu erkennen, dass ein radikaler Kurswechsel nötig ist. An die Adresse jener Partnerländer in Europa, die die Erfüllung einer Quote verweigern, sagte sie, die Zeit für langwierige Entscheidungen sei längst schon vorbei. Kritik, dass die Registrierung und Versorgung von Flüchtlingen – Stichwort Hotspots – in Italien nicht gut funktioniere, wollte Boldrini nicht gelten lassen. "Wir arbeiten daran, aber die Flüchtlingskrise ist nicht zuletzt deswegen eine, weil nicht alle am selben Strang ziehen. Es gäbe keine Krise in Europa, wenn jeder seinen Beitrag leisten würde."

Jeder muss Beitrag leisten

Boldrini nannte als Referenzgröße die Türkei: "Allein dort, allein in diesem einen Land, sind zwei Millionen Flüchtlinge untergebracht. Und wir machen solche Probleme für die eine Million Menschen, die hierher nach Europa gekommen sind? Wenn Europa in diesem Tempo weitermacht, haben wir das Flüchtlingsproblem auch in 100 Jahren noch nicht gelöst. Wir müssen wieder ein Kontinent der Menschenrechte und der Menschenwürde sein", forderte die italienische Politikerin.

Die Kritik an Italien sei überzogen, da das europäische Gesamtpaket nicht funktioniere. "Wir leisten schon unseren Teil."

"Größte humanitäre Katastrophe seit Zweitem Weltkrieg"

Die Gründe für die Flüchtlingsproblematik sieht Boldrini in der Verbreitung von Terrorgruppen vom Zuschnitt des "Islamisischen Staats". Europa und der gesamte Westen hätten es verabsäumt, solchen radikalen Tendenzen schon früher zu begegnen: "Erst jetzt, weil so viele Menschen aus Syrien und dem Irak flüchten mussten, erst jetzt, durch diesen stillen Marsch der Hunderttausenden, erst jetzt, durch diese größte humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg, ist bei uns in Europa Bewegung in die Sache gekommen."

Ausdrücklich lobte Boldrini die Syrien-Gespräche im Herbst in Wien. "Die Lösung des Krieges kann und darf nicht nur militärischer Natur sein, sondern es muss eine politische Lösung geben. Ein bloß militärisches Eingreifen von außen hat schon oft bewiesen, dass die Lage bloß verschlimmert wurde, anstatt nachhaltigen Frieden zu bringen."

Mehr statt weniger Europa

Anlass für Boldrinis Wien-Besuch war die Unterzeichnung einer Initiative mit dem Titel "Mehr europäische Integration". Darin fordern die Parlamente von Italien, Frankreich, Deutschland und Luxemburg eine Intensivierung und Vertiefung des europäischen Gedankens und der Zusammenarbeit, um die aktuellen Probleme zu meistern. Österreich unterzeichnete in Person von Nationalratspräsidentin Bures am Dienstag als zehntes Land dieses Memorandum. (gian, 22.12.2015)