Was die politische und ökonomische Ausrichtung nach der Unabhängigkeit betrifft, stellt das Baltikum im Vergleich zu den anderen sowjetischen Nachfolgerepubliken einen Sonderfall dar. Das klare Ziel, sich nach Westen zu orientieren, unterscheidet die baltischen Staaten deutlich von Ländern wie der Ukraine oder Belarus. Die angestoßenen Reformbemühungen mündeten schließlich im Jahr 2004 in der Integration Estlands, Lettlands und Litauens in westliche Bündnisse, allen voran die Europäische Union inklusive Eurozone sowie die Nato.
Die Motivation dafür erklärt sich vor allem mit der Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der Sowjetunion, die im Baltikum primär als gewaltsame sowjetische Besetzung verstanden wird. Die mitunter immer noch anhaltende Verehrung von anti-sowjetischen Partisanen, die Deportation zehntausender Menschen nach Sibirien, die Singende Revolution sowie die als baltischer Weg bekannte Menschenkette von Vilnius nach Tallinn sind tief im jeweiligen kollektiven Gedächtnis verwurzelt.
So schnell die Integration in westliche Organisationen gelang, ist die Frage nach Nation und Staatsbürgerschaft – quasi als Erbe der Sowjetunion – auch im Baltikum noch präsent. Wie in vielen multiethnischen sowjetischen Nachfolgerepubliken brachte die Desintegration der UdSSR im Baltikum für Teile der Gesellschaften große Probleme mit sich – allen voran für die russischsprachige Minderheit. Politische Rechte und ökonomischer Erfolg sind im Baltikum für diese Gruppen immer noch eng mit der ethnischen Zugehörigkeit verknüpft.
Das "Erbe" der Sowjetunion
In Estland liegt der Anteil russischer Staatsbürger mit 25,5 Prozent (2010) bei rund einem Viertel der Bevölkerung. In Lettland haben hingegen formell gesehen zwar nur 2,4 Prozent (2014) einen russischen Pass, allerdings liegt der Anteil der russischsprachigen Minderheit an der Bevölkerung mit 26,8 Prozent de facto noch höher. Zudem sind insgesamt 12,7 Prozent (2014) der lettischen Bevölkerung staatenlos und somit mit deutlich weniger Rechten ausgestattet. Die russischsprachige Minderheit macht dabei rund zwei Drittel (2014) dieser sogenannten "Nichtbürger" aus. Dieses Phänomen lässt sich vor allem mit der geografischen Nähe und der entsprechenden Migration vor und zu Zeiten der Sowjetunion erklären. Wie in Estland bekamen die Menschen aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken in Lettland nach der Unabhängigkeit, sofern sie nach dem Zweiten Weltkrieg zugezogen waren und keine andere Staatsbürgerschaft vorweisen konnten, den Status der "Nichtbürgerschaft" verliehen.
Dies betraf vorwiegend die ehemaligen Arbeiter aus Russland, die dadurch zwar eine permanente Aufenthaltsgenehmigung bekamen, allerdings bis heute große Einschränkungen im Arbeitsleben hinnehmen müssen und von Wahlen nach wie vor ausgeschlossen sind. Zwar ist das Erlangen der lettischen Staatsbürgerschaft nach erfolgreicher Absolvierung eines Sprach- und Geschichtstests möglich, allerdings wird diese Möglichkeit kaum genutzt; einerseits aufgrund eines Zugehörigkeitsgefühls zu Russland, anderseits, da dieser Test von Menschen, die seit Jahrzehnten im Land leben, als diskriminierend wahrgenommen wird und ein Antrag diese Praxis legitimieren würde.
In Litauen fällt dieses "Erbe" der Sowjetunion schwächer aus als in den anderen beiden Staaten, da einerseits der Anteil der russischen Minderheit zu Zeiten der Sowjetunion geringer war und da nach der Unabhängigkeit Menschen aus anderen Teilrepubliken relativ problemlos die litauische Staatsbürgerschaft bekommen konnten. So ist auch der vergleichsweise geringe Anteil der russischen Bevölkerung in Litauen mit 5,8 Prozent (2011) zu erklären, was allerdings nicht bedeutet, dass dort keine Konflikte mit der russischsprachigen Minderheit bestehen.
Die Situation der russischsprachigen Minderheit
Auch 25 Jahre nach den Unabhängigkeitserklärungen der baltischen Staaten sind die Spannungen mit der russischsprachigen Minderheit immer noch sehr deutlich zu vernehmen. Diese Dynamiken, die durch den Ausbruch des Ukraine-Konflikts noch einmal zugenommen haben, offenbaren sich durch eine Reihe von scheinbar profanen Ereignissen. Drei sollen hier kurz ausgeführt werden:
Erstens zeigen sich die Spannungen an den alljährlichen Diskussionen, ob das orthodoxe Weihnachtsfest am 6. Jänner im vermehrt protestantischen Estland und Lettland ein offiziell anerkannter Feiertag werden solle. Zweitens wurde Anfang Dezember die dringend notwendige Diskussion in Litauen über die Integration der russischsprachigen Minderheit dadurch befeuert, dass russischsprachige Schüler aus Litauen an einer Sommerschule für Pfadfinder in Russland als Uniformen der Roten Armee verkleidet für das Vaterland Russland "gekämpft" hatten. Drittens kontrolliert die sogenannte Sprachpolizei in Lettland das Führen von Sprachausweisen. So muss jede Person mit permanentem Wohnsitz, die keine lettische Staatsbürgerschaft besitzt, stets ihre Lettisch-Kenntnisse nachweisen können. Diese Vorgehensweise basiert auf dem "Gesetz über die Staatssprache" aus dem Jahr 1999. Dadurch wurde Lettisch offiziell zum "Nationalgut", jede andere Sprache automatisch zur Fremdsprache. Die lettische Sprache wurde im Februar 2012 zudem mit einer überwältigenden Mehrheit von 75 Prozent in einem nationalen Referendum als einzige offizielle Amtssprache bei einer Wahlbeteiligung von rund 70 Prozent bestätigt. Dies führt bis heute zu großen Problemen für die russischsprachige Minderheit, die Lettisch zu Zeiten der UdSSR nicht wirklich in der Schule gelernt hatte.
Die verfehlte Integration überträgt sich auch auf die politische Ebene und macht sich beispielsweise beim Wahlverhalten bemerkbar. Bei der Parlamentswahl in Estland 2014 erzielte die sozialliberale "Zentrumspartei" mit 24,8 Prozent die zweitmeisten Stimmen. Diese vertritt als einzige Partei die russischsprachige Minderheit, ist allerdings politisch isoliert und wurde vom späteren Wahlsieger Taavi Rõivas vorab als Koalitionspartner ausgeschlossen. In Lettland erreichte im Jahr 2014 die russlandfreundliche Partei "Harmonie" mit 23 Prozent sogar die meisten Stimmen, allerdings auch ohne an der Regierung beteiligt zu werden. Immerhin musste der damalige estnische Finanzminister Jürgen Ligi im Oktober 2014 zurücktreten, nachdem er den russischsprachigen Sozialminister Jevgeni Ossinovski als "Einwanderersohn mit fehlenden Wurzeln" beschimpft hatte.
Debatten um russischsprachige TV-Sender
Auch auf der medialen Ebene schlagen sich diese Kontroversen nieder. In allen drei Staaten gibt es Debatten um russischsprachige Sender. Abgesehen davon, dass in den Grenzregionen russisches Fernsehen für die meisten Haushalte sowieso schon zu empfangen ist, drehen sich die Debatten vorwiegend um die Gegenberichterstattung zu russischen Medien. Die estnische Regierung beschloss im September 2014 zum ersten Mal staatliches Fernsehen auf Russisch auszustrahlen. Der Sender "ETV+" startete im September 2015, dezidiert mit dem Ziel, als Korrektiv zum russischen Fernsehen zu wirken. Die Akzeptanz dieses Senders von Seiten der russischsprachigen Minderheit wird sich noch zeigen, kann aber zumindest als ein Versuch einer verbesserten Integration angesehen werden.
Quasi zeitgleich gab in Lettland der Nationale Rat für elektronische Medien einen nationalen russischsprachigen Sender frei, ebenfalls mit der Idee, einen neuen Sender als Informationsquelle für die russischsprachige Bevölkerung in Lettland zu etablieren. Dieser wurde bisher allerdings nicht umgesetzt. Diese Reaktionen im Baltikum auf die russische Berichterstattung – Litauen sperrte im April 2015 den russischsprachigen Sender "RTR Planeta" für drei Monate – zeigen erneut, wie viele Schwierigkeiten einerseits noch immer mit dem Umgang der russischsprachigen Minderheit bestehen, anderseits aber auch wie sehr die Bedrohung durch Russland wahrgenommen wird.
So machte sich im November diesen Jahres die Abneigung im Baltikum gegenüber Russland in Form von russlandfeindlichen Kommentaren in sozialen Netzwerken zum Absturz des russischen Flugzeugs über der Sinai-Halbinsel erneut bemerkbar, deren Häme selbst vor den unschuldigen Opfern dieser Katastrophe nicht Halt machte. Korrekterweise kritisiert der estnische Soziologe Mikko Lagerspetz deshalb, dass die estnische Minderheitenpolitik seit der Unabhängigkeit eng mit Sicherheitspolitik und somit der Bedrohung durch Russland in Verbindung gebracht wurde.
Spannungen mit Russland auf dem internationalen Parkett
Gerade der Konflikt in der Ukraine hat alte Erinnerungen geweckt, die eine erneute russische Invasion als Bedrohungsszenario auf viele Titelseiten brachte. Dementsprechend wurde die Halbierung der im Baltikum stationierten Flugzeuge der Nato im Herbst 2015 scharf kritisiert. Nahezu zeitgleich wurde der vom neuen polnischen Präsidenten Andrzej Duda bei seinem Antrittsbesuch in Estland vorgebrachte Vorschlag neuer Nato-Stützpunkte in Osteuropa sehr positiv aufgenommen. Der Stachel der jüngeren Geschichte steckt noch tief, weshalb der übermächtige russische Nachbar in allen baltischen Staaten genau beobachtet wird.
Neben der stetigen Forderung nach der Ausweitung der Sanktionen gegen Russland, drehen sich die Diskussionen im Zuge des Ukraine-Konflikts auch zunehmend um militärische Maßnahmen. Im Jänner 2015 präsentierte das litauische Verteidigungsministerium beispielsweise den Ratgeber "Was wir über die Vorbereitung auf extreme Situationen und einen Krieg wissen müssen". Kurz darauf wurde im aktuellen litauischen Staatshaushalt der Etat für Verteidigung leicht angehoben, die Rüstungskapazitäten des Landes ausgebaut und im März 2015 die Wehrpflicht wieder eingeführt. Aufgrund der jüngeren Vergangenheit ist diese Reaktion zwar verständlich, allerdings darf bei der Debatte nicht vergessen werden, dass die drei baltischen Staaten seit 2004 Mitglied der Nato sind und somit aufgrund der Garantien im Verteidigungsfall nicht mit der Ukraine vergleichbar sind.
All diese Schilderungen stehen für verschiedene Facetten der Spannungen mit Russland. Die Angst vor einer russischen Invasion erscheint im Lichte der Nato-Mitgliedschaft als unbegründet. Nachdem die Unterstützung Russlands der Separatisten in der Ostukraine aber auch damit begründet wurde, dass die dortige russischsprachige Minderheit geschützt (Russkiy Mir) werden müsse, kam das Thema der baltischen russischsprachigen Minderheit vermehrt auf die nationalen Agenden. So wurden die drei Staaten zwangsweise daran erinnert, dass sie selbst die unbeliebte russischsprachige Minderheit bisher mangelhaft integriert hatten. Sollten dadurch Kräfte freigesetzt werden, die zu einer verbesserten Integration der russischsprachigen Minderheit führen, wäre dies einer der wenigen positiven Effekte des Ukraine-Konflikts.
EU muss Integration vorantreiben
Die Bekämpfung der alltäglichen und institutionellen Diskriminierung der russischsprachigen Minderheit im Baltikum und somit auch in der Europäischen Union bleibt eine große Aufgabe, die seit der Desintegration der UdSSR unerfüllt blieb. Wenn die Europäische Union sich weiterhin als Hüterin der Menschenrechte versteht, gilt es dieses Thema auch als europäische Gemeinschaft weiter zu verfolgen und zu einer Verbesserung der Situation beizutragen. Die Verbreitung von Informationen über die Situation der russischsprachigen Minderheit im Baltikum ist dabei nur der erste Schritt.
Es gilt die russischsprachige Minderheit besser zu integrieren, ohne jedoch deren ethnische, religiöse oder sprachliche Identität zu vernachlässigen. Dies kann einerseits über eine gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte des 20. Jahrhunderts geschehen, anderseits aber auch durch eine ehrliche Diskussion über die aktuelle Situation der russischsprachigen Minderheit. Nur so kann die Integration sukzessive voran gebracht werden, die nicht zwangsweise durch einen Generationswechsel vollzogen wird. Klar ist, dass eine gelungene Integration ein Prozess ist, der von beiden betroffenen Seiten angestrebt werden muss – und dies gilt nicht nur für den Fall der russischsprachigen Minderheit im Baltikum. (Tobias Spöri, 23.12.2015)