Zweieinhalb Monate Flucht, drei Monate Lager Traiskirchen – nun ist Nawid (Mitte), hier mit seinen Brüdern Mario (links) und Michael (rechts), in der Geborgenheit einer Exschrebergartensiedlung angekommen.

Foto: Matthias Cremer

Als wir im Haus der Familie Ostermann (Namen geändert) eintreffen und den kleinen zum Wohnzimmer hin offenen Eingangsbereich betreten, hält er sich im Hintergrund: ein schmaler, junger Bursch mit schwarzen Haaren, der im Licht am entgegengesetzten Ende des Raumes steht.

Erst im Trubel der Begrüßung – Hund Benno springt uns entgegen, die Söhne Mario (14) und Michael (21) werden uns von Mutter Monika Ostermann vorgestellt – kommt er näher. Schüttelt mir und dem Fotografen die Hand, lächelt seinen leicht besorgten Gesichtsausdruck weg: Nawid Rahimi aus Afghanistan, 15 Jahre jung, ist hier erst seit wenigen Wochen zu Hause: als Pflegesohn der Alleinerzieherin Ostermann, im Rahmen der in Wien vom Amt für Jugend und Familie (MA 11) betriebenen Aktion für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

Pflegeelterninitiativen wie diese verschaffen alleinstehenden jungen Flüchtlingen in etlichen Bundesländern familiären Anschluss und Schutz. Sie stehen vielfach erst am Beginn. Doch laut Katharina Glawischnig vom NGO-Dachverband Asylkoordination, die mehrere derartige Programme mitbetreut, können sie "Teil der Lösung" im Umgang mit den rund 3000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Österreich sein. 1500 von ihnen leben nach wie vor im Lager Traiskirchen.

Am Rande von Wien

Im Fall des 15-jährigen Nawid liegt das Familienleo in einer zu Wohnzwecken umgewidmeten Schrebergartenkolonie am Wiener Stadtrand, einer Vielfalt winterfester, zu Einfamilienhäusern ausgebauter Gartenhütten hinter Buchsbaum- und Thujenhecken.

Geborgen und doch abgelegen ist es hier, das renovierte, mitten in der Siedlung gelegene Haus der Ostermanns hat einen Garten mit einem – derzeit leeren – kleinen Swimmingpool. Eine Buslinie, die Haltestelle ist gleich hinterm Siedlungseingangsgatter, führt zur nächstgelegenen U-Bahn-Station. Jenseits der Straße verliert sich der Blick in Feldern mit vereinzelten Glashäusern.

Der Bus hält auch beim Gymnasium, das Nawid seit kurzem als außerordentlicher Schüler der vierten Klasse besucht. Das, sagt Monika Ostermann stolz, habe der 14-jährige Mario eingefädelt, der Klassensprecher ist. Was das auch unter Schülern höchst heterogene Meinungspanorama in Sachen Flüchtlinge betrifft, gibt sich Mario keinen Illusionen hin.

Die zuerst vorgeschlagene Klasse sei für seinen Wahlbruder ungeeignet gewesen, erzählt er: "Da sitzen lauter Ausländerfeinde drin." Die stattdessen ausgesuchte Klasse sei besser – zumal es gelungen sei, den in der Schule wortführenden Ausländerfeind erfolgreich zu bearbeiten: "Der sagt jetzt, es sei nur unser persönlicher Fehler, wenn wir Nawid helfen."

Dies – Nawid helfen – ist in mancher Hinsicht gar nicht so einfach. Denn so beruhigend seine neue Umgebung auch ist: Innerlich ist er mit den Erlebnissen auf der Flucht beschäftigt. "Nawid schläft schlecht. Seine Nächte sind voller Albträume und Ängste", schildert die Pflegemutter. Tatsächlich dürfte der 15-Jährige die belastenden Ereignisse ins Halbbewusste verdrängt haben: "It's like a dream that I passed" ("Es ist wie ein Traum, den ich durchlaufen habe"), sagt er.

Der "Traum", der zu seinen Albträumen führte – und dabei eigentlich eine Fluchterfolgsgeschichte ist – begann Anfang Mai. Damals verließ Nawid seine Mutter und seinen kleinen Bruder in der afghanischen Hauptstadt Kabul.

Stationen der Flucht

Der Vater und der große Bruder seien eines Abends nicht mehr nach Hause gekommen. Die Mutter habe daraufhin alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihm das Weggehen zu ermöglichen: Sie habe auch um ihn gefürchtet, erzählt Nawid in gebrochenem Englisch, in das sich vereinzelt schon deutsche Worte mischen.

"In Kabul hatten wir Probleme mit einer anderen Familie, lebten in großer Unsicherheit", schildert er. Doch in seinem ersten Fluchtland, dem Iran, sei die Situation für ihn um nichts besser gewesen: "Ich war illegal. Hätte mir ein Polizist 'Stopp' zugerufen und ich wäre nicht stehen geblieben, hätte er wohl auf mich geschossen." Also reiste er weiter, in die Türkei. Dort habe man ihn bestohlen: "Ich war müde gewesen, war am Straßenrand eingeschlafen. Als ich aufwachte, war mein Handy weg."

Seither, sagt er, habe er keinen Kontakt zu Mutter und Bruder in Kabul – und daher auch keine Pläne, sie im Rahmen einer Familienzusammenführung nachzuholen. Vor allem afghanischen Jugendlichen wird dies vielfach als Hauptmotiv der Flucht unterstellt.

In die EU, konkret auf eine griechische Insel, gelangte der junge Afghane auf einem mit 65 Passagieren besetzten Achtmeterboot. Später, auf dem griechischen Festland, wurde er vier Tage lang in einem Lager interniert: "Es gab nicht genug zu essen, und Polizisten haben einen Freund verprügelt."

Schließlich habe der Schlepper, der die Jugendlichen nach Mitteleuropa brachte, die Gruppe vor der Weiterfahrt 24 Stunden lang in einem Waldgebiet sich selbst überlassen. Dann – endlich – schien Nawid sein Ziel erreicht zu haben: "You are in Germany!", habe der Schlepper verkündet und sie aus dem Wagen aussteigen lassen: am Rand von Wien. "Wir haben dann die Badner Bahn ins Lager Traiskirchen genommen."

Dort kam Nawid am 20. Juli an – und hat für die vorgefundenen Zustände klare Worte: "Es war die Hölle." Einen Monat musste er in einem Zelt wohnen, dann konnte er in ein Zimmer übersiedeln – wo zwischen jungen Syrern und Afghanen regelmäßig handgreiflicher Streit ausbrach. Den Raum wechseln durfte er aber erst nach längerem Hin und Her.

Treffen in Traiskirchen

Doch, immerhin: In Traiskirchen, vor dem Lager, lernte der junge Bursch Monika Ostermann kennen. Als ehrenamtliche Helferin versuchte sie, für unbegleitete Minderjährige Plätze in Wohngemeinschaften zu organisieren. Das gelang in manchen Fällen, nicht aber im Fall Nawids. "Ich habe ihn dann nach Hause zum Übernachten eingeladen. Und noch einmal. Und dann habe ich von der Wiener Pflegeelternaktion gehört", erzählt Ostermann.

Doch es wäre nicht österreichische Sozialbürokratie, wäre die eigenmächtige Wahlelternvermittlung problemlos über die Bühne gegangen. Erst nach längeren Verhandlungen gelang es, den 15-Jährigen und die Ostermanns in das Wiener Pflegeelternprogramm aufzunehmen.

Weil Nawid für das Wiener Vermittlungsprogramm ein Jahr zu alt ist: Die MA 11 bringt derzeit nur unbegleitete Flüchtlinge bis 14 Jahre mit potenziellen Pflegeeltern zusammen. Zwischen 14 und 16 herrscht eine Grauzone: Eine aktive Vermittlung findet für diese Kinder nicht mehr statt. Lernen sie aber ihre Wahleltern auf anderen Wegen kennen, kann das Pflegekindverhältnis sozusagen rückwirkend gewährt werden. Für 16- bis 18-Jährige wiederum gibt es in Wien ein Gastelternprogramm des Fonds Soziales Wien (FSW).

Ähnliche Aufnahme-"Fleckerlteppiche" kündigten sich auch in anderen Ländern an, sagt Beraterin Glawischnig. Im Grunde fehle es auch hier an systematischer Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern: "Würden direkt im Lager Traiskirchen Pflegeelternschaften vermittelt, wäre das Problem mit den dort gestrandeten unbegleiteten Minderjährigen rascher gelöst", meint sie.

Dann hätten viele Burschen die Chance, wie Nawid mit ihren Wahlgeschwistern im elterlichen Wohnzimmer auf der Xbox begeistert Fußball-WM-Matches nachzuspielen. (Irene Brickner, 26.12.2015)